Die Hansestadt Lübeck ist berühmt für ihre Geschichte. Im Zentrum steht dabei meist die Hanse und die mittelalterliche Bausubstanz Lübecks, der die Stadt ihren UNESCO-Welterbe Status verdankt. Vor der pittoresken Idylle könnte man fast vergessen, dass auch Lübecks Geschichte untrennbar mit Gewalt und Unrecht verknüpft ist. Wie soll diese Geschichte zukünftig erinnert werden? Welche Formate und Orte sind hierzu geeignet? Und wie können Lübecker:innen gemeinsam die Stadtgeschichte erforschen und aktiv die Erinnerungskultur der Stadt mitgestalten?
Diesen Fragen widmet sich seit dem 1. März die neue Koordinatorin Erinnerungskultur der Hansestadt Lübeck. Dr. Christiane Bürger ist Expertin für Fragen rund um das Thema „Erinnerungskulturen“ und klassisch ausgebildete Historikerin: Sie hat Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte in Heidelberg und Wien studiert. Nach einem Aufenthalt am Goethe-Institut in Dar es Salaam, Tansania, promovierte sie an der Universität Heidelberg zu einem bis heute intensiv diskutierten Thema der Erinnerungskultur – dem Genozid an den Ovaherero und Nama im heutigen Namibia. Im Anschluss hat sich Dr. Bürger in zahlreichen Museen, etwa der Stiftung Flucht, Vertreibung Versöhnung und der Stiftung Haus der Geschichte, der Erforschung und Vermittlung historischer Themen gewidmet. Vor ihrem Wechsel nach Lübeck war Dr. Bürger in Erfurt als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik und Koordinatorin des Projekts „Koloniales Erbe in Thüringen“ tätig.
Erinnerungskultur ist in stetigem Wandel
An der Stelle in Lübeck hat sie vor allem das breite Spektrum der Aufgaben und ihrer Rolle als „Ermöglicherin“ gereizt: „Wir alle wissen, dass die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit wichtig ist, doch trotzdem sind die Themen und Formate der Erinnerungskultur oft ziemlich akademisch und exklusiv. Mich treibt um, wie wir als Stadt neue, inklusive Zugänge ermöglichen können.“ Nötig ist das auch deshalb, weil sich das Verständnis von Erinnerungskultur in stetigem Wandel befinde, da sich die Zugänge zur Geschichte mit jeder Generation und den aktuellen Herausforderungen und Fragen der Gegenwart verändere. Das zeige sich auch in Lübeck, wo etwa das Thema Kolonialismus seit einigen Jahren kritisch erschlossen werde.
„Auch in der Hansestadt stellt sich die Frage, wie zukünftig an den Nationalsozialismus, aber auch an Kolonialismus, die deutsch-deutsche Geschichte und rechte Gewalt erinnert werden soll, um die demokratische Resilienz zu stärken“, unterstreicht Kultursenatorin Monika Frank. Das mache die Stelle auch so spannend, wie Dr. Bürger betont. Aufgrund der vielen Themen und diversen Methoden der historischen, politischen und kulturellen Bildung sei es auch durchaus sinnvoll, von Erinnerungskulturen im Plural zu sprechen. Der Dialog und Diskurs mit der Stadtgesellschaft stehe dabei an erster Stelle, um eine zeitgemäße, lebendige und plurale Erinnerungskultur zu fördern, die sich nicht in leeren Ritualen erschöpft. „In Lübeck gibt es bereits zahlreiche Initiativen, die zeigen, wie dies gelingt. Es ist mir ein großes Anliegen, ihre Arbeit zu unterstützen und mich als städtische Ansprechpartnerin für ihre Anliegen einzusetzen.“
Weitere Dialoge nach motivierendem Start in Planung
Dr. Bürgers Start in Lübeck war von einer motivierenden Willkommenskultur geprägt. „Ich hatte in den letzten Monaten die Gelegenheit, mit vielen Akteur:innen und Aktivist:innen zu sprechen und die engagierten Kolleg:innen der Hansestadt kennenzulernen. In kürzester Zeit konnte ich erste Projekte begleiten. Zum Beispiel die Ausstellung #StolenMemory auf dem Klingenberg, die im Mai zu sehen war.“ Die öffentliche Ausstellung sei auch ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig ein niedrigschwelliger Zugang zum Thema sei. „Es ist wirklich zentral, dass wir auch Lübecker:innen ansprechen, die sich bislang noch nicht als Akteur:innen der Erinnerungskultur verstehen; etwa weil sie ihre eigenen biografischen Erfahrungen nicht gespiegelt finden“, so Dr. Bürger. Hierzu würden aktuell auch partizipative Formate vorbereitet, die zum Dialog über den aktuellen Stand der Erinnerungskultur und virulente Kontroversen einladen sollen. Was funktioniert gut? Was fehlt? Und wie kann die Stadt gute Rahmenbedingungen schaffen, um auf die verschiedenen Bedarfe zu reagieren? Die Zeit des Erinnerns – die künftig auch von Dr. Bürger koordiniert wird - bietet dafür hierfür einen passenden Rahmen.
Pilotprojekt für Lern- und Vermittlungsort zur Gewaltgeschichte Lübecks
Ein weiterer Fokus wird in der Erarbeitung einer ersten Konzeption für einen Lern- und Vermittlungsort zur Gewaltgeschichte Lübecks liegen. Unterstützt wird die Koordinatorin künftig von einem beratenden Gremium, das dieses Projekt mit Expertise begleitet. Dieses Vorhaben sei besonders spannend, da nicht nur über die Inhalte diskutiert werden soll, sondern auch noch ein passender Ort gefunden werden muss. Solche Projekte seien bis zur Realisierung in der Regel recht langwierig. Doch darin liege zugleich eine Chance, um neue Formate und Teilprojekte im Leerstand oder in bereits bestehenden Institutionen zu erproben, wie Dr. Bürger unterstreicht. Hierzu soll im Herbst zusammen mit der Technischen Hochschule ein erstes Pilotprojekt starten.
Hintergrund
Im September 2022 hat der Kulturausschuss der Lübecker Bürgerschaft die Neuaufstellung der Lübecker Erinnerungskultur beschlossen. Grundlage war hierbei das Konzept „Lübeck erinnert – um Demokratie zu leben“ vom Mai 2022, das auch die Schaffung einer neuen Stelle „Koordination Erinnerungskultur“ empfahl.
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