Unter meiner Krone ...
Unter meiner Krone spielte sich früher das gesellschaftliche Leben ab. Man pflanzte Linden auf fast jedem Markt- oder Dorfplatz. Dort trafen sich dann die Menschen zum Reden, Feiern und Tanzen. Aber auch, wenn Gericht gehalten wurde. Für all diese Angelegenheiten bin ich wie geschaffen: Ich wachse schnell in die Breite, werde mehrere hundert Jahre alt und mein dichtes Blätterdach schützt vor Regen. Deshalb finden viele Menschen unter mir Platz. Manchmal sogar auf mehreren Ebenen. Zum Beispiel, wenn ein Tanzpodest in meine Krone eingebaut wird.
Wenn Sie mich nicht an meinen herzförmigen Blättern erkennen, die im Herbst sonnig gelb leuchten, können Sie mich im Mai und Juni »erriechen«. Dann blühe ich und verbreite besonders in den Abendstunden einen intensiven Duft. Unsere weißlich-gelben Blüten kennt fast jeder, der schon mal mit einem Lindenblütentee eine Erkältung ausgeschwitzt hat. Sie sind an einem feinhäutigen Hochblatt befestigt. Dieses Blatt segelt durch die Luft, wenn es abfällt und dient meinem Fruchtstand als Flugorgan.
Was mir ein bisschen peinlich ist, sind die Blattläuse. Aber sie ergötzen sich geradezu an meinen Pflanzensäften. Saugen diese mit ihren Stechrüsseln aus und ernähren sich davon. Was sie nicht verwerten können, scheiden sie in Form einer zuckerhaltigen Lösung wieder aus. Und dieses Zeug klebt dann auf ihren Autoscheiben oder Gartenmöbeln. Glauben Sie mir, ich kann nichts dafür. Ich leide selbst darunter: denn Blattläuse übertragen Pflanzenviren und locken Pilze an, die mir nicht gut tun. Mich tröstet nur, dass sich auch viele Insekten von diesem sogenannten Honigtau ernähren. Vor allem die Honigbienen, denen ich damit beim Überleben helfe.
Wenn Sie mal eine alte Linde sehen, die innen hohl ist: Machen Sie sich keine Sorgen! Mein Holz lagert keine Gerbstoffe ein und deshalb werde ich von innen heraus morsch. Trotzdem entwickele ich im Alter eine Lebensfreude, um die mancher Baum mich beneidet. Mein Trick ist so einfach wie überzeugend: ich bilde im Inneren meines morschen Stammes einfach neue Wurzeln aus. Sie verankern sich im Boden und versorgen mich mit Energie für eine neue Krone. Das passiert aber erst, wenn ich zu einem alten und statthaften Solitär herangewachsen bin. Als „Jungspund“ – so wie ich hier vor Ihnen stehe, bleibt mein Holz wohl noch lange fest und voll.
Für die Germanen galt ich als »heiliges Holz« und sie weihten mich ihrer Liebesgöttin Freia. Vielfach stand eine Skulptur der Göttin direkt unter mir. Christen haben diese dann später oft durch Mariendarstellungen ersetzt.
Mein weißlich gelbes Holz eignet sich besonders gut für die Bildhauerei, zum Schnitzen und Drechseln. Was nicht alles aus mir gemacht wird! Faschingsmasken, Perückenköpfe, Küchengeräte, Musikinstrumente oder Heiligenfiguren. Vor allem in der Spätgotik schufen Bildhauer wie der berühmte Tilman Riemenschneider aus mir ganze Altäre. Ich bin also auf vielfache Weise mit der Kulturgeschichte verbunden: So geht zum Beispiel auch das Volkslied »Am Brunnen vor dem Tore« auf ein Gedicht zurück, das ursprünglich »Der Lindenbaum« hieß. Den Anfang kennen Sie sicher alle:
Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum
Ich träumt in seinem Schatten
So manchen süßen Traum.
Machen Sie doch auch mal wieder Pause und träumen unter meinem schattigen Blätterdach.