Esskastanie

Castanea sativa - Baum des Jahres 2018

Endlich darf auch ich mich Baum des Jahres nennen. Das macht mich stolz und gibt mir vor allem die Gelegenheit, einmal eine botanische Verwechslung aufzuklären. Denn ich werde immer mal wieder mit der Rosskastanie verwechselt. Und das hat mit unseren Fruchtständen zu tun. Oberflächlich betrachtet, sehen sie sich zwar sehr ähnlich - doch sie haben komplett verschiedene Funktionen. Bei den Rosskastanien sind die mahagonibraunen, glänzenden Kerne ungenießbare Samen. Bei uns Ess-Kastanien sind diese Kerne köstliche Früchte. Nussfrüchte, um genau zu sein. Geröstet laufen sie unter dem Namen „Maronen“ und fehlen zur Winterzeit auf keinem Weihnachtsmarkt. „Keschde“ nennen uns die Pfälzer, bei denen wir seit der Römerzeit auf dem Speiseplan stehen.

Das Brot der Armen
In den kargen Regionen Südeuropas reicht meine Tradition als Nahrungsmittel sogar noch vor die Römerzeit zurück. Dort kultivierten uns zunächst die Griechen, die mich auch in ihren Kolonien rund um das Mittelmeer verbreiteten. Meist wuchsen wir dort in lockeren Gruppen auf terrassierten Berghängen. Unter uns weideten Schafe und Ziegen und einmal im Jahr machte man Heu.

Bei den Griechen, Römern und auch hierzulande waren die Gerichte allerdings nicht so raffiniert, wie die Süppchen, Parfaits oder Bratenfüllungen, die heutige Küchenchefs aus meinen Früchten zaubern - doch eines haben wir Esskastanien schon immer: satt gemacht. Reich an stärkenden Kohlehydraten und wesentlich anspruchsloser zu kultivieren als Weizen, nannte man unsere Früchte auch „das Brot der Armen“. Vom Mittelalter bis in das 19. Jh. hinein waren Esskastanien oft  DAS Grundnahrungsmittel für die Landbevölkerung. Man aß uns über dem Feuer geröstet, zur Suppe verkocht, zu Brot verbacken oder als herzhaften Brei. Zu Mehl vermahlen waren wir außerdem lange haltbar. In Kühlschranklosen Zeiten ein klarer Vorteil. Die Zahl derer, die mein Kastanienmehl in schlechten Erntejahren vor dem Hungertod gerettet hat, ist jedenfalls unermesslich. Doch je weiter die landwirtschaftlichen Techniken fortschritten und je mehr Mais und Kartoffeln die Menschen aßen, um so mehr geriet ich als Nahrungsmittel ins Abseits. Heute sind meine Bestände deutlich ausgedünnt und verwildert - vor allem in Südeuropa. Trotzdem steht gerade dort mit der „Kastanie der 100 Pferde“ eine Esskastanie der Superlative:

Die Kastanie der 100 Pferde
Für einen Ausflug dorthin folgen Sie mir in das Reich der Rätsel und Legenden. In meinem Fall liegt es in Sizilien in dem kleinen Ort Sant’Alfio am Fuß des Vulkans Etna. Dort steht sie nämlich, die „Kastanie der 100 Pferde“. Die Legende sagt, dass unter ihr eine Königin mitsamt ihrem Gefolge und 100 Pferden Schutz vor einem Gewitter gefunden hat. Wer die edle Dame war, weiß man nicht – und auch sonst gab die Esskastanie lange Zeit Rätsel auf: Man konnte weder ihr Alter bestimmen, noch, ob sie tatsächlich nur ein einziger Baum ist. Steht man nämlich vor ihr, sieht man oberirdisch drei Stämme. Dieses Bild muss sich schon dem Naturforscher Giuseppe Recupero geboten haben, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals - aber leider vergeblich - nach Beweisen für die Einheit des Baumes suchte. Mittlerweile scheint mit Hilfe von DNS-Proben geklärt, dass die drei Teilstämme tatsächlich aus einem Stamm erwachsen sind. Auch was das Alter betrifft, sind die Botaniker heute schlauer. Sie schätzen, dass die „Kastanie der 100 Pferde“ zwischen 2.000 und 4.000 Jahren auf der Wurzel hat. Sie ist damit einer der ältesten Bäume Europas und mit einem Kronenumfang von 59 Metern der Baum mit dem größten Umfang weltweit.

Von Anatolien nach Süddeutschland
Zurück in die Realität: Mein Name Kastanie ist dem lateinischen Wort ‚castanea‘ entlehnt und geht auf die armenische Bezeichnung „kask“ zurück. Nicht weit von Armenien entfernt, soll im heutigen Anatolien meine ursprüngliche Heimat liegen. Von dort gelangte ich zuerst nach Griechenland und von dort in seine Kolonien rund um das Mittelmeer. Eine dieser Kolonien war auch das heutige Marseille, das die Griechen 600 v. Chr. gründeten. Es gibt deshalb Forscher, die daran zweifeln, dass mich die Römer nach Süddeutschland einführten. Sie argumentieren, dass es bereits in der Bronzezeit eine Handelsroute vom Mittelmeer über das Tal der Rhône in das heutige Süddeutschland gab. Ihre These wird zudem gestützt durch bronzezeitliche Holz- und Pollenfunde am nördlichen Alpenrand. Trotzdem lasse ich auf die Römer nichts kommen, denn sie waren es, die hierzulande meinen Anbau, meine Veredelung und meine Nutzung vorangetrieben und perfektioniert haben. Südwestdeutschland habe ich deshalb über die Jahrtausende lieben gelernt. Ein besonders inniges Verhältnis pflege ich zur Pfalz, wo die Römer nicht nur meine Früchte, sondern auch mein Holz schätzten. Sie verwendeten es im Weinbau, wo es als Rankhilfe, Rebstock, Pfahl oder zum Fassbau diente. Aus der römischen „castanea“ und der armenischen „kask“ wurde ich dort zur „Keschde“, die aus dieser Region nicht mehr wegzudenken ist. Sind im Herbst der Wein gekeltert und die Kastanien geerntet, feiern die Menschen überall „Keschdefeschde“, auf denen es äußerst gesellig zugeht. Am häufigsten treffen Sie mich heute noch entlang der Deutschen Weinstraße an. Dort blühe ich zwischen den Weinbergen und dem Pfälzerwald Jahr für Jahr mit verschwenderischer Pracht. Diese Blüte ist ein einziger zartgelber Rausch, davon sollten Sie sich wirklich einmal persönlich überzeugen. Imker wissen das übrigens längst, denn meine Blüten sind extrem nektarreich. Entsprechend ertragreich sind auch ihre Honigernten. Doch wer nun glaubt, Esskastanienhonig sei ein reiner Blütenhonig, den muss ich aufklären. Denn neben meinem Blütennektar sammeln die Honigbienen auch Honigtau. Dies ist ein zuckerhaltiger Saft, den ich aus speziellen Drüsen ausscheide. Ein Esskastanienhonig ist deshalb immer eine Mischung aus Blütenhonig und Honigtau. Er ist dunkel bernsteinfarben, schmeckt würzig-herb und hat Dank des Honigtaus einen klaren Vorteil: Er kristallisiert nicht. Sie sehen: Ob Honig oder „Keschde“ - auch heute noch habe ich sommers wie winters Köstliches zu bieten.

Das könnte Sie auch interessieren