Was mich wirklich fertig macht
Also: ich bin ein einfacher Wacholder und wachse von den tropischen Gebirgen bis zur Polarzone. Ich habe also überhaupt nichts gegen den Norden. Ich fühle mich sogar ganz wohl dort. Wobei Lübeck für mich noch nicht einmal richtig Norden ist. Trotzdem stehe ich in Deutschland auf der roten Liste und in zahlreichen anderen Ländern unter Naturschutz. Dabei bin ich eigentlich anspruchslos. Magerweiden, Sand- und Trockenfluren oder Heidelandschaften: darauf kann ich sehr gut leben. Was mich wirklich fertig macht, das sind Schatten und Platzmangel.
Habe ich einmal einen geeigneten Platz gefunden, wachse ich, wie ich will: Mal werde ich zu einem kleinen Baum, der eine aufrechte säulenförmige Krone hat und sehr an eine Zypresse erinnert. Das sind die Bäume, die jeder kennt, der schon einmal Bilder von der Toscana gesehen hat. Dann wieder wachse ich zu einem Strauch heran, der sich von Grund auf reich verzweigt oder sogar mehrstämmig ist. Mein graugrünes Nadelkleid trage ich ganzjährig und wenn Sie genau hinsehen, entdecken Sie auf der Oberseite der Nadeln einen weißen Streifen mit einem dünnen, grünen Rand. Reiben Sie mal an einer Nadel: ich finde, es duftet sehr aromatisch.
Ich gehöre zwar zu den Zypressengewächsen, bilde aber fleischige Früchte aus, die auch als Wacholderbeeren bekannt sind. Anfangs sind sie grün, später dann tief dunkelblau. Sie sind auch das einzige, was man von mir ernten darf. Als Gewürz fehlen sie in keiner traditionellen, europäischen Küche. Sauerkraut, Wildgerichte, Fischsud oder ein deftiger Braten ohne Wacholderbeeren sind fast undenkbar. Und das ist auch gut so: denn der Bitterstoff in meinen Beeren fördert die Verdauung. Destilliert schmecken die Beeren auch gut. Zu Gin oder Steinhäger verarbeitet werden sie nach einem fetten Essen gerne als Magenbitter gereicht. Ein Destillat aus meinem Holz wiederum wurde früher als sogenannter Wacholderteer gegen chronische Hautausschläge eingesetzt. Womit wir auch schon bei meinen Heilkräften sind:
Ich bin voll von ätherischen Ölen. Sie helfen, den Körper zu entwässern, die Durchblutung zu fördern und bei Erkrankungen der Lunge, der Atemwege und der Nieren helfen. Das wiederum liegt an ihrer keimtötenden Wirkung. Bei Bronchitis, Grippe oder Erkältung hilft es, wenn Sie ein paar Beeren kauen oder ein paar Tropfen ätherisches Öl in Wasser geben und inhalieren. Bis heute werden meine Beerenzapfen in Pflegeprodukte und Medikamente eingearbeitet. Sie helfen bei rheumatischen Erkrankungen, Arthrose und Arthritis sowie bei Gicht oder der Muskelkrankheit mit der Bezeichnung Fibromyalgie. Wacholderölkapseln, die Sie im Reformhaus oder in der Apotheke kaufen können, fördern die Durchblutung und regen den Stoffwechsel an.
Meine heilsamen Kräfte waren schon den Ägyptern, Griechen, Römern und Germanen bekannt. Die Germanen verwendeten meine Zweige. Sie verbrannten sie, um mit dem Rauch ansteckende Krankheiten zu vertreiben. In ganz Europa kochte man meine Beeren ab, um mit dem Sud den Körper zu entwässern. Hatte man die Beeren vor dem Abkochen auch noch geröstet, galt dieser Sud als blutreinigend und half gegen Blasen- und Nierensteine. Meine Zweige und Wurzeln schließlich halfen - ebenfalls abgekocht - bei Darmkrankheiten.
Im Volksglauben war ich ein wichtiges Gehölz. So galt ich in vielen Ländern als Symbol für körperliche Stärke und Fruchtbarkeit. Gerne pflanzte man mich auch an Gräbern. Und zwar nicht als Symbolbaum für den Tod, sondern sozusagen als Wächterbaum zwischen Leben und Tod. Denn man glaubte, ein Verstorbener sei nicht unwiederbringlich an das Totenreich verloren. Und so hielten sich die Seelen in mir auf, bis klar war, ob sie wieder in das irdische Leben zurück können – oder eben nicht. Aus dieser Wächterfunktion hat sich vermutlich auch mein heutiger Name entwickelt. Vom Althochdeutschen »wechalter« über »Queckholder« und »Weckholder« bis zum heutigen Wachholder.
Meine anderen Namen verdanke ich der Wacholderdrossel. Sie ernährt sich von meinen Früchten und hieß früher auch Krammetvogel oder Kranewitt. »Eßt Kranewitt und Bibernell, dann sterbts nit so schnell« hieß ein beliebter Spruch, der sich auf meine Wirkung gegen die Pest bezieht: Ein Jüngling aus der Oberpfalz soll die Pest unter einem Wacholderbaum überlebt haben. Sie können sich ja denken, wie schnell sich so eine Nachricht herumsprach. Und so begann man, auf öffentlichen Plätzen Wacholderzweige zu verbrennen und Krankenstuben mit brennenden Scheiten auszuräuchern.
Bei den Germanen hatte ich außerdem antidämonische Eigenschaften. Sie schnitzten aus meinem Holz Gerätschaften für ihre Heiler oder schützende Amulette gegen böse Geister. Mit meinen dornenbesetzten Zweigen verjagten sie Dämonen und Waldgeister. Außerdem sollten meine Zweige den Teufel abwehren und Tiere fruchtbarer machen. Deshalb durfte ich auch vielerorts nicht geschlagen werden. Das Abholzverbot gilt auch heute noch – allerdings, weil ich unter Naturschutz stehe und das Abholzen oder Abbrechen von Zweigen verboten ist.