Die einen werden besonders alt, die anderen wachsen besonders hoch. Spitz-Ahorne sind besonders früh dran. Will sagen: ich bin der einzige einheimische Laubbaum, der Blüten hat, bevor er Laub bekommt. Von weitem sehen sie aus wie zarte, lichtgrüne Blätter. So bringe ich zum Frühlingserwachen frische Farbe in die Städte – denn ich bin auch ein durch und durch guter Stadtbaum: Sehr anpassungsfähig, tolerant gegenüber dem stressigen Klima, windfest und frosthart. Den Sommer über bleibe ich unauffällig - aber Im Herbst laufe ich ein zweites Mal zu Höchstform auf. Dann sind es nicht meine Blüten, sondern wirklich meine Blätter, die den Menschen imponieren: Von lodernd gelb bis tiefrot leuchten sie in die Welt und sorgen auch in Lübeck für eine Dosis Indian Summer-Feeling.
Ich brauche viel Sonne und wachse deshalb selten im Wald. Wohl fühle ich mich deshalb vor Bauernhöfen, in der freien Landschaft oder in Parks. Dort mache ich als Schattenspender eine Super-Figur. Mit der nötigen Entfaltungsfreiheit wachse ich zu einem stattlichen Einzelbaum mit dichter Krone heran und kann rund 180 Jahre alt werden.
Meine Verwandtschaft ist weitläufig. Von mir sind etwa hundert Gartenformen bekannt, die alle unterschiedlich wachsen und die vielseitigsten Blattformen und -färbungen hervorbringen. Seit Langem wird meine Familie deshalb im Garten- und Landschaftsbau eingesetzt. Meiner Blätter erkennt aber jeder, der schon einmal eine Kanadische Flagge gesehen hat. Mit der Anzahl der Blatt-Zacken haben sie dort zwar ein bisschen geschummelt, aber darüber sehe ich generös hinweg. Auch meine Früchte kennt wahrscheinlich jedes Kind. Es sind paarweise angeordnete Nüsschen mit waagerecht abstehenden Flügeln, die bei Kindern als Nasenreiter sehr beliebt sind.
Eine meiner wichtigen ökologischen Eigenschaften ist, dass meine Streu sich leicht zersetzt. Allerdings reagiere ich empfindlich gegenüber Bodenverdichtung und Rückschnitt. Bisweilen befällt mich auch der echte Mehltau. Der weiße Belag auf meinen Blättern sieht wirklich hässlich aus, schadet mir aber nicht. Der Ahorn-Runzelschorf ist da schon ein anderes Kaliber. Er ist auch bekannt unter dem Namen Teerfleckenkrankheit. Womit über das Erscheinungsbild alles gesagt ist. Die Krankheit hat aber nichts mit Autoabgasen und dem Stadtverkehr zu tun. Die hässlichen Flecken gehen auf einen Pilz zurück. Entfernt man meine Blätter im Herbst, kann man einen neuen Ausbruch im kommenden Jahr vermeiden.
»Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig, ... schrieb Johann Wolfgang von Goethe in Faust. Ein passendes Zitat, um auf meine zuckersüße Seite zu sprechen zu kommen: Denn in meinem Stamm führe ich sogenannten Baumsaft. Im Frühjahr steigt er auf und kann geerntet werden, indem man meine Rinde anschneidet und den Saft auffängt. Er enthält Vanillin, schmeckt süß und diente in schlechten Zeiten als Zuckerersatz. Über großen Lagerfeuern dickte man diesen Saft entweder zu Ahorn-Sirup ein oder kristallisierte ihn zu Zucker aus. Gegenüber dem Zucker-Ahorn – einem meiner Verwandten, der wesentlich mehr Saft produziert – ist der Ertrag bei mir wirtschaftlich nicht bedeutend.
Mein Holz wiederum ist gleich dreifach ideal für die Küche. Es ist weiß und sieht besonders rein aus. Es ist feinporig und nimmt daher Geschmacks- und Geruchsstoffe nicht so sehr auf. Außerdem quillt es beim Waschen nicht so auf. Nudelhölzer, Holzlöffel, Platten, Bretter oder Spekulatiusformen: sie alle werden gerne aus meinem Ahornholz geschnitzt. Auch für Kegel, Kegelkugeln und Spielzeug mit weichen Rundungen eigne ich mich gut. Möbeltischler machen aus mir prächtige Tischplatten. Und auch ein Parkett aus Ahorn ist enorm beständig ist und belastbar.
Belastbare Indizien dafür, dass ich in der Sagenwelt oder in der Heilkunde eine große Rolle gespielt habe, gibt es dagegen kaum. Meine Blätter legte man zur Kühlung auf fiebernde Körperstellen. Ein Sud aus meinen Blättern soll Augenkrankheiten lindern. Ansonsten bin ich eher ein unbeschriebenes Blatt. Nirgendwo bringt man mich mit Göttersagen, Naturreligionen oder dem Christentum in Verbindung. Nur dem mecklenburgischen Volksglauben nach schützen Ahornzapfen, die man in die Türen und Schwellen von Ställen und Scheunen einschlug, wirksam vor Hexen. Immerhin.