Europäische Stechpalme

Ilex aquifolium - Baum des Jahres 2021

Weihnachtlich, giftig, pflegeleicht
Dunkelgrün, ledrig und glänzend sind meine Blätter - und am Rand sind sie bewehrt mit spitzen Stacheln. Wenn sie jedoch genauer hinschauen, können Sie sehen, dass diese Blätter nur in Bodennähe sehr stachelig sind. Je weiter Sie an mir hochschauen, umso seltener werden Sie diese Stacheln finden. In der Botanik nennt man das „Heterophyllie“ – was frei übersetzt so viel heißt wie „Ungleich-Blättrigkeit“. Ich nenne es einen effektiven Schutz vor äsendem Wild, denn mein Blattwerk ist für Tiere nicht giftig. Man muss sich halt einfach nur zu helfen wissen. Ob stachelig oder nicht: Für Sie als Mensch sind alle meine Blätter giftig. Das gilt auch für meine leuchtend roten Steinfrüchte. Sie entwickeln sich an den weiblichen Ilexformen und sind so giftig, dass 20 bis 30 von ihnen einen erwachsenen Menschen töten können. Wenn Sie also an einen Ilex für Ihren Garten denken, sollten Sie lieber warten, bis Ihre Kinder einsichtig genug sind, um nicht davon zu naschen. Alternativ empfehle ich Ihnen ein männliches Exemplar, das keine Beeren trägt. So macht man es zum Beispiel hierzulande auch, wenn man Kindergärten, Schulhöfe oder Spielplätze mit einer immergrünen, schnittverträglichen und pflegeleichten Hecke einrahmen will.

Palmenersatz zu Ostern
Noch einmal zurück zu meinen Stachelblättern: Sie haben mir anstelle meines botanischen Namens „Ilex aquifolium“ den Namen Stechpalme eingebracht. Wie ich an diese Blätterstacheln gekommen sein soll, dazu gibt es folgende Legende: Als Jesus in Jerusalem einzog, standen Menschenmengen am Straßenrand und jubelten ihm mit Palmwedeln zu. Bei seiner Kreuzigung sollen diesen Palmwedeln dann Stacheln gewachsen sein - fertig war die Stechpalme. Doch so war es natürlich nicht. Tatsächlich diente ich den Christen in Mitteleuropa bei ihren vorösterlichen Prozessionen als Palmwedelersatz - und zwar in Ermangelung echter Palmen oder Zweige, die um Ostern herum bereits belaubt sind. Auf mich konnten sich die Christen stattdessen verlassen, denn ich trage meine Blätter ganzjährig. Und das schon seit Millionen von Jahren.

Ein Baum aus alter Zeit
Ich stamme aus einem Erdzeitalter, in dem in meiner europäischen Heimat ein subtropisches Waldklima herrschte. Als dann die Eiszeiten weite Teile Europas zu einem lebensfeindlichen Territorium machten, habe ich mich nach Spanien und Portugal zurückgezogen. Etwa so, wie viele Rentner, die über Winter nach Mallorca ziehen und wieder zurückkommen, sobald die Temperaturen hierzulande steigen. Bis heute fühle ich mich überall dort wohl, wo das Meer nicht allzu weit entfernt ist, die Winter vergleichsweise mild und die Sommer nicht allzu heiß und trocken sind. Wenn Sie schon einmal auf den Kanarischen Inseln waren, dann wissen Sie, wovon ich spreche.

Baum oder Strauch?
Falls Sie sich fragen, warum ich zum Baum des Jahres gekürt wurde, obwohl Sie mich nur als mittelhohen Strauch kennen: Es hängt vom Licht ab, wie ich mich entwickele. Fehlt mir dieses Licht - etwa, weil ich im Schatten anderer Bäume wachse - bleibe ich ein Strauch, der nicht höher wird als drei Meter. An lichten Standorten hingegen habe ich gute Chancen, zu einem gut zehn Meter hohen Baum mit kegelförmiger Krone aufzuschießen. Das ist mir unter anderem gut gelungen, als die Menschen vor rund 11.000 Jahren sesshaft wurden und ihr Vieh im Wald weiden ließen. Bis auf den stacheligen Wacholder und mich fraßen die Tiere dort alles Grün, das ihnen vor die Kauleisten kam. Pech nur, dass sie auch die jungen Schösslinge der Laubbäume fraßen und dadurch den kontinuierlichen Nachwuchs des Waldes vertilgten. Hinzu kam der Raubbau am Wald, weil Holz der einzige Energieträger war. Um mich herum wurde es dadurch lichter und lichter, so dass ich mich vielfach zu stattlichen Bäumen entwickeln konnte. Mitte des 19. Jahrhunderts hatten dann die meisten kapiert, dass es mit der Wald- und Weidewirtschaft nicht so weitergehen konnte. Es mussten sogar große Aufforstungen stattfinden. Für mich schien damit die Zeit gekommen, wieder als Strauch unter Bäumen zu wachsen. Und anfangs sah auch alles so aus, als ob das prima gelingt. Doch es kam anders.

Weihnachten als Bedrohung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten mich die Menschen in Europa beinahe ausgerottet. Die Ursache für diese Existenzkrise waren meine immergrünen Zweige mit den roten Beeren. Sie hatte schon seit der Zeit der Kelten, Germanen und Römer eine symbolische Bedeutung – meist als Schutz vor bösen Geistern. Im Mitteleuropäischen Christentum dienten sie bei den vorösterlichen Prozessionen als Palmenersatz und waren der originäre Weihnachtsschmuck. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Ilexzweige aber derart beliebt, dass man erntete, was meine Bäume und Sträucher hergaben. Wie so oft, dachte man dabei aus Profitgier nicht an das Morgen. Hätte es den Protest von Naturschützern nicht gegeben, hätte mich dieser Raubbau wohl endgültig das Leben gekostet. Nach ersten lokalen Ernteverboten steht meine wildwachsende Form nun seit 1935 deutschlandweit unter Artenschutz.

Neun hölzerne Buchstaben
In Großbritannien und Nordamerika spiele ich als Weihnachtsschmuck aber immer noch eine wichtige Rolle. Dort pflanzt man große Ilex-Wälder, um den Bedarf zu decken. Ob auch der Ilex-Wald in der Nähe der amerikanischen Stadt Los Angeles einmal Weihnachtsschmuck „produziert“ hat, kann ich leider nicht mehr feststellen. Sicher ist, dass mich dieses Stück Land weltberühmt gemacht hat. Im englischen heiße ich nämlich „holly“. Na, klingelt da was bei Ihnen? Genau: Am 13. Juli 1923 ließ der Amerikaner Harry Chandler an den Hängen des Mount Lee riesige Holzbuchstaben aufstellen, die das Wort HOLLYWOODLANDS ergaben. Chandler war Verleger der Los Angeles Times und ein mächtiger Grundbesitzer, der nahe Los Angeles Baugrundstücke vermarkten wollte. Das klappte hervorragend, so dass anstelle von Ilex nun auf den Hollywoodlands große Filmstudios heranwuchsen. Die hölzernen Buchstaben - 1949 renoviert und zu „Hollywood“ eingekürzt - wachen dort bis heute über die bekannteste Traumfabrik der Welt.

 

Ein Zukunftsbaum
Ich selbst darf ebenfalls von einer guten Zukunft träumen. Leider, muss ich an Sie gerichtet wohl hinzufügen, denn es ist der Klimawandel, der mir Überlebensvorteile bringen wird. Erste Schritte sind gemacht, denn schon jetzt habe ich die Grenzen meines Lebensraums über die Ostsee hinweg nach Südskandinavien und Polen erweitert. Die Experten sind sich noch nicht einig, doch meine These ist: Der angestammte Ilex-Lebensraum wird sich weiter verschieben. Hierzulande werden mir die spürbar milderen Wintermonate dabei helfen. Als immergrünes Schattengehölz bekomme ich nämlich genau dann das meiste Licht, wenn alle anderen Bäume kahl sind. Sobald dann die Temperaturen die Null Grad-Marke überschreiten, betreibe ich Photosynthese. Ergo: Je seltener es friert, desto vitaler bin ich.

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