Die Germanen glaubten, dass ihr oberster Gott Odin mir - der Esche – den Lebensatem einhauchte, woraufhin der Mann entstand. Die Algonkin-Indianer glaubten, dass Mann und Frau entstanden, indem der Schöpfer der Welt einen Pfeil in meinen Stamm schoss. Und in der nordischen Sagenwelt ist die Esche Ygrdrasil der allumfassende Weltenbaum. Ich verbinde dort nicht weniger als neun verschiedene Welten. In ihnen leben Elben, Zwerge, Riesen und Götter. Und in Midgard, der zentralen aller Welten, da leben die Menschen. Sollte diese weltumfassende Esche Ygdrasil irgendwann einmal welken, würde das den Weltuntergang bedeuten... Das wird in hier Lübeck garantiert nicht passieren. Hier kümmern sich die Baumpfleger ausgezeichnet um mich. Ich glaube, die wissen, was auf dem Spiel steht!
Von Natur aus bin ich ein Baum der Auen- und Schluchtenwälder. Den Status eines Haus-, Hof- oder Gartenbaums habe ich leider nie erlangt. Meine Wurzeln wachsen so weit verzweigt, dass sie alle Mauern und Gebäude schädigen würden. Mein Holz wird allerdings schon seit alters her für Zäune, Pfähle und Palisaden benutzt. »Fraxinus« – ein Teil meines offiziellen Namens fraxinus excelsior – stammt von dem griechischen Wort »phrasso« und bedeutet so viel wie Umzäunung.
Außerdem ist mein Holz seit Urzeiten als Waffenholz begehrt. Vor allem für Bögen und Speere. Sowohl das germanische »ask-r« als auch das griechische »melia« bedeuten nicht nur Esche, sondern auch Speer. Achilles soll dem dem trojanischen Helden Hektor mit einem Eschenspeer den Garaus gemacht haben. Und auch Amors berühmter Liebespfeil soll aus meinem Holz geschnitzt worden sein. Da mein Holz von großer Qualität ist, zählt es zu den Edellaubhölzern. Es splittert nicht und ist sehr belastbar.
Förster wissen, dass ich den Schatten gut vertrage, aber frostempfindlich bin. Sie ziehen mich deswegen erst einmal unter dem Schutz anderer Bäume heran. Bin ich etwa zwei Meter hoch, brauche ich mehr Platz. So viel, dass sich meine üppige Krone frei einfalten kann. Ausgewachsen kann ich 40 Meter hoch werden und zähle damit zu den Bäumen »erster Größe« - will sagen: zu den höchsten Bäumen Europas.
Lange währt mein Leben häufig nicht, denn schon im Alter von rund 80 Jahren werde ich geholzt. Das ist nicht einmal die Mitte meines Lebens, denn ich kann bis zu 200 Jahre alt werden. Wer mich fällt, sollte auf jeden Fall wissen, welches Holz ihn erwartet. Vor dem 80. Lebensjahr ist es hell und einheitlich gefärbt. Dann beginnt mein Kernholz, sich bräunlich zu verfärben. Ist diese Färbung nur leicht, schmälert das meinen Wert. Je mehr sie sich im Laufe der Zeit ausprägt, umso teurer werde ich gehandelt. Dann erinnert mein Holz an das von Olivenbäumen – die mit mir verwandt sind – und wird als »Olivesche« teuer bezahlt. Also: man muss mich entweder in jungen Jahren abholzen, oder Geduld mitbringen. Ansonsten ist mein Holz ein ausgezeichneter Rohstoff für den Innenausbau, für Möbel aller Art und für strapazierte Geräte. Werkzeugstiele und Turngeräte sind zum Beispiel immer noch häufig aus Eschenholz.
Die Naturapotheke
Zuletzt möchte ich noch darauf zu sprechen kommen, dass ich auch als Heilmittel sehr vielseitig einsetzbar bin. Lange Zeit hat man mein Holz als Ersatz für Chinarinde als fiebersenkenden Mittel benutzt. Meine Asche wiederum hat man mit Essig verrührt, und damit gebrochene oder verstauchte Knochen behandelt. Und schließlich hat man offene Verletzungen mit Streifen von meiner Rinde umwickelt, weil ihr eine wundstillende Wirkung nachgesagt wird. Wenn ich mir’s recht überlege, bin ich nicht nur ein Weltenbaum, sondern auch eine wandelnde Apotheke.