Berg-Ahorn

Acer pseudoplatanus - Baum des Jahres 2009

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Hörtext als Kurzfassung

Der botanische Oskar

Kennen Sie noch Oskar Matzerath? In Günther Grass Wahlheimat Lübeck ist das wohl eher eine rhetorische Frage. Für alle anderen: So hieß der Junge aus der »Blechtrommel«, der nicht mehr wachsen wollte. Und so wie Oskar auf das Kriegsende gewartet hat, bis er wieder wuchs, warte ich auf mehr Licht. Metaphorisch betrachtet, sind das ja durchaus ähnliche Motive. Baumkenner nennen es deshalb »Oskar-Syndrom«, wenn ich als ein bis wie Meter hoher Knirps erst einmal im Wachstum stagniere, weil es mir zu dunkel ist.

An der richtigen Stelle gepflanzt, bringe ich selbst einen wunderbaren Schatten in jeden Garten oder Park. Hier im Drägerpark bin ich noch klein – aber wenn wir mal ein paar Jahre weiter sind, dann werden Sie staunen. Bekommen einzelne Zweige dort trotzdem einmal nicht genug Licht, habe ich einen weiteren Trick: dann entwickle ich ungleich große Blätter. Die unteren werden dann größer und versuchen so, den Lichtmangel auszugleichen. Wenn das Klima nicht zu trocken ist, bin ich außerdem einer der besten Alleebäume, die man sich vorstellen kann. Bleibt also abzuwarten, wie ich mit dem Klimawandel so klarkomme.

Im Frühjahr bin ich etwas unauffälliger, als meine Ahorn-Verwandten, weil ich in der Regel schon Laub trage, wenn ich blühe. Wer mich übrigens vom Spitz-Ahorn unterscheiden will, braucht dazu nur vorsichtig in unsere Blattstiele zu pieksen. Wenn kein Milchsaft kommt, dann bin ich es. Der Berg-Ahorn. Im Herbst treibe ich es außerdem nicht ganz so bunt. Allerdings wachse ich bis in viel höhere Lagen und leuchte im Gebirge in spektakulären Gelbtönen. Den »Großen Ahornboden« – ein Hochtal im Naturschutzgebiet Karwendel – habe ich mit diesem Schauspiel berühmt gemacht. Das sieht aber auch toll aus, wie wir da zu Hunderten stehen und das Tal goldgelb färben. Finde ich jedenfalls.

Über meine natürliche Grenze nach Norden wird unter Baumkundlern heiß diskutiert. Aus eigener Kraft habe ich die Rückkehr nur bis Norddeutschland geschafft. Der Mensch hat dann nachgeholfen, so dass ich heute auch im südlichen Skandinavien und in England wachse. Hauptsächlich findet man mich aber in den Bergen Süd- und Mitteleuropas. Gerne stehe ich zusammen mit Buchen, Tannen und Fichten. In den Ostalpen erreiche ich Höhen von bis zu 2.000 Metern. Je höher es geht, desto besser kann ich mich durchsetzen. So bin zu einem Laubbaum avanciert, der oberhalb von 800 Metern sogar Reinbestände bildet. Besonders wohl fühle ich mich an Steilhängen, auf Geröllhalden und in feuchten Tälern. 

Mein Beiname »pseudoplatanus« bezieht sich auf das Farbenspiel meines Stammes. Der entwickelt mit zunehmendem Alter eine schuppenförmige Borke, die sich in vielen Abstufungen von gelb über grün nach braun verfärbt. Wohlgemerkt gleichzeitig. Das erinnerte die Botaniker wohl an die Platane. Auf meinem Stamm siedeln auch viele sogenannte »Aufsitzerpflanzen«. Sie schaden mir nicht, sondern sagen etwas aus über die Qualität der Luft. Wenn Sie solche Flechten an meinem Stamm entdecken, ist das ein gutes Zeichen: dann ist die Luft rein. 

Für die Förster bin ich ein Muster an Geradwüchsigkeit. Geht es mir gut, kann ich bis zu 40 Meter schnurstracks in den Himmel wachsen. Auch mein Holz genießt bei den Förstern einen ausgesprochen guten Ruf. Sie können es zu hohen Preisen an Instrumentenbauer verkaufen, die es dann zum Beispiel für das Klangholz von Streichinstrumenten oder für Flöten verwenden. Möbelbauer, Drechsler und Schnitzer schätzen es wegen der schönen hellen Farbe. Manchmal sind sogar Tiere scharf auf mein Holz: es enthält unheimlich viel Stärke und kann deshalb gemahlen als Viehfutter eingesetzt werden. Wegen des hohen Stickstoffgehalts ist auch mein Laub immer wieder ein willkommenes Viehfutter.

Den Menschen habe ich immer schon allerlei Gutes für ihre Hausapotheke geboten. So wurden  meine Blätter leicht angedrückt als kühlende Auflage auf Geschwüre oder Insektenstiche gelegt. Im Ersten Weltkrieg war ich eine wichtige Zuckerquelle. Bohrt man meinen Stamm im Frühjahr an, »bluten« dort bis zum Tag meines Austreibens etwa 50 Liter meines Frühjahrssafts heraus. Er schmeckt leicht süßlich und wird zu Ahornsirup eingedickt. In Amerika gehört der »maple-juice« in jeden Kühlschrank. Auch Vögel, Blattläuse und Ameisen lieben diesen Saft. Sogar Mäuse ritzen gelegentlich meine Rinde an, um sich daran zu laben. Kann man nur hoffen, dass sie keine Karies bekommen.

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