Als ich 1993 zum Baum des Jahres gewählt wurde, setzte ein regelrechter Run auf mich ein. Die Medien haben sich um mich gerissen, Förderkreise gründeten sich. Endlich bekam ich die Aufmerksamkeit, die mir zustand und die mich – das kann man wohl sagen – vor dem Aussterben gerettet hat. Die Baumschulen kamen gar nicht mehr hinterher mit der Nachzucht. Bis zu meiner Wahl hatte man sich eigentlich nur im Frankfurter Raum gut um mich gekümmert. Dort war nämlich bekannt, dass meine Inhaltsstoffe den Apfelwein veredeln. Sie klären ihn, verbessern seinen Geschmack und machen ihn haltbarer. Mittlerweile keltert man sogar edle Brände namens »Sorbette« aus mir. Das klingt in meinen Ohren auch viel feiner als mein Hausname »sórbus doméstia«.
Der Kreis derer, die meine Früchte roh essen, dürfte wiederum sehr klein sein. Von ihrer Form her liegen sie irgendwo zwischen einem Apfel und einer kleinen Birne. Sehen schmackhaft aus, schmecken aber ziemlich bitter. Ihr Fruchtfleisch hat eine adstringierende, das heißt zusammenziehende Wirkung und enthält neben reichlich Vitamin C und viele Gerbstoffe. Vermutlich wurden sie deshalb immer schon gerne bei Magen-Darm-Beschwerden eingesetzt. Überreif oder zu Marmelade und Gelee verarbeitet, schmecken meine Früchte dann vorzüglich. Probieren Sie es einmal.
Bis ich diese Früchte zum ersten Mal trage, vergehen aber gut und gerne 15 Jahre. Wenn ich denn überhaupt wachse. Denn es ist nicht ganz einfach, mich zu vermehren. Auch das hat mit meinen Fruchtfleisch zu tun. Es muss erst ganz sorgfältig von den Samen entfernt werden, damit sie keimen können. In der Natur gelingt das, weil Vögel das Fruchtfleisch verdauen oder weil es im Winter verrottet. Allerdings haben da meistens vorher schon die Mäuse zugeschlagen, die meine Samen lieben. Keimen sie dann doch, muss ich mich in jungen Jahren vor Wildbiss in Acht nehmen. Rehe lieben meine zarten Stämme.
Bevor bei Ihnen jetzt der Eindruck entsteht, ich sei ein bisschen kapriziös: seitdem ich in den Baumschulen in Pflanzcontainern ausgebracht werde, ist meine Nachzucht richtig erfolgreich. So erfolgreich, dass ich heute nicht mehr vom Aussterben bedroht bin. Mitten im Wald pflanzt man mich allerdings nicht mehr aus. So haben die Rehe keine Chance.
Außerdem brauche ich viel Licht und im Wald würden mich die Buchen verdrängen. Deshalb ziere ich heute hauptsächlich Wege und Waldränder. Auch in Landschaftsgärten und geräumigen Wildobstplantagen fühle ich mich richtig wohl. Wenn Sie spazieren gehen, erkennen Sie mich an meinen gefiederten Blättern und im Sommer an meinen leuchtend gelbroten Früchten. Wie gesagt, machen Sie mal Marmelade daraus.
Mein Holz wiederum ist das schwerste aller europäischen Arten und eines der härtesten dazu. Früher wurde es im Instrumentenbau eingesetzt, heute komme ich aus Schutzgründen nur noch ganz selten auf den Markt. So erhole ich mich langsam. Seitdem ich Baum des Jahres war und seitdem das mit der Nachzucht klappt, ist mein Bestand in Deutschland von 4.000 auf über 600.000 Exemplare gestiegen. In einigen Gegenden Deutschlands macht man im Wald sogar blaue Ringe um meinen Stamm – damit ich nicht aus Versehen gefällt werde. Das ist doch mal eine Erfolgsstory, finden Sie nicht?