Rosskastanie

Aesculus hippocastanum - Baum des Jahres 2005

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Hörtext als Kurzfassung

Mein persönlicher Herbst beginnt im Juli

40 bis 100 Kilometer pro Jahr: das klingt nach dem Tempo einer Rennschnecke. Es ist aber  die Reichweite, mit der sich die Rosskastanien-Miniermotte durch Europa frisst. Und – wie ihr Name schon andeutet – ausgerechnet mich befällt. Meine Blätter sind die Leibspeise ihrer Larven. Um daran zu kommen, fressen sie Gänge durch das Innere meiner Blätter und saugen sie aus. Diese werden braun, welken und fallen ab – und das bereits ab Mitte Juli. Das unterbricht wiederum meine Photosynthese und hindert mich, wichtige Nährstoffe aufzunehmen. Mal ganz abgesehen von der Ästhetik: Während Sie noch im Freibad liegen, sehe ich bereits aus wie der Herbst.

In den ersten Jahrhunderten meiner mitteleuropäischen Existenz war ich kaum krank oder von Fraßfeinden bedroht. Ursprünglich war ich über ganz Europa verbreitet, habe mich aber während der  letzten Eiszeit in die Mittelgebirge Griechenlands, Mazedoniens und Albaniens zurückgezogen. Nach Westeuropa bin ich erst vor 450 Jahren wieder zurückgekommen. Eine relativ kurze Zeit, wenn man bedenkt, dass ich 300 Jahre alt werden kann. Zu verdanken habe ich meine Rückkehr unter anderem den osmanischen Feldzügen. Die Türken führten mich als Futter und als Medizin für ihre Pferde mit.

1576 kam ich nach Wien, wo mich ein gewisser Carolus Clusius anpflanzte. Durch den Versand meiner Samen sorgte er dafür, dass ich mich in ganz Europa verbreiten konnte. Schnell avancierte ich zu einem Modebaum – zunächst in fürstlichen Parks und Alleen, ab dem 18. Jahrhundert auch als Alleebaum. Als im 19. Jahrhundert in Deutschland vermehrt Volksgärten entstanden, war ich als Charakterbaum dieser städtischen Grünanlagen ganz vorne dabei.

Seit 1984 ist nun alles anders. Da hat man besagte Miniermotte erstmals entdeckt. Sie stammt aus schwer zugänglichen Tälern und Schluchten in Albanien, Makedonien und Nordgriechenland - für mich also natürliche Standorte, an denen ich die eben erwähnte Eiszeit überdauerte. Abgeschottet von der Außenwelt, haben wir dort gemeinsam gelebt. Die Motte und ich. Doch mit der Zeit erschloss man Teile dieser Bergregionen und machte sie damit nicht nur zugänglicher, sondern auch durchlässiger. Zum Beispiel für diese Motte. Man vermutet, dass sie sich auf Lastwagen den Weg nach Westeuropa bahnte. Außerdem vermutet man, dass einige ihrer Exemplare 1989 aus einem Wiener Forschungslabor entkommen konnten und ein Volk gründeten. Lassen Sie uns von etwas anderem reden: ich habe ja schließlich nicht nur Krankheiten, sondern auch Vorzüge.

Farbservice für Bestäuber

Bin ich gesund, blühe ich je nach Witterung zwischen April und Juni. Und was meine Blüten können, ist der Hit: Sie melden, ob sie Nektar haben oder nicht. Denn so lange sie befruchtungsfähig sind – und nur dann produzieren sie Nektar – tragen sie einen gelben Fleck. Wurden sie bestäubt, wird dieser Fleck rot. Und signalisiert den Vögeln und Insekten, dass nichts mehr zu holen ist. Weil meine Blüten sich zuhauf an aufrechten Blütenständen versammeln, nennt der Volksmund sie auch Kerzen. An einer einzigen solchen Kerze befinden sich übrigens bis zu 42 Millionen Pollen.

Meine Früchte sind bestachelte Kugeln. Mich persönlich erinnern sie ein bisschen an Seeigel. Sie reifen ab September und enthalten meistens einen, aber auch schon mal zwei oder drei glänzend braune Samen. Das sind die Kastanien, aus denen wahrscheinlich jedes Kind schon einmal Spielfiguren gebastelt hat. Für Tiere hingegen sind diese ein beliebtes Futter. Sie heißen Kastanien, weil sie so aussehen wie der Samen der Esskastanie. Näher verwandt sind wir aber nicht. Weil meine Früchte sehr schwer sind, fallen sie durch die Schwerkraft ab, platzen am Boden auf und geben die Kastanien frei. Diese sehr seltene Form der Ausbreitung nennt man auch Schwerkraftwanderung.

Ansonsten bin ich ein sommergrüner Baum, der bis zu 30 m hoch wird. In meiner Jugend wachse ich schnell und wenn ich ausgewachsen bin, trage eine prächtige runde Krone. Sie spendet reichlich Schatten – vor allem, weil meine Laubblätter so schön groß sind. Werde ich älter, entwickelt meine anfangs glatte Rinde sich zur Borke und reißt auch schon mal in gröberen Schuppen ab. Keine Sorge, auch das ist normal. Wir werden halt alle nicht jünger.

Wenn meine Samen therapeutisch verwendet werden sollen, isoliert man aus ihnen den Stoff Aescin. Er dichtet die Blutgefäße ab und hilft auch bei Wadenkrämpfen. Im Zusammenspiel mit anderen Inhaltsstoffen stärkt dieser Extrakt die Venen und wirkt Entzündungen entgegen. Bundesweit profitieren etwa sechs Millionen Menschen davon. Das haben die Forscher am Institut für die Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg herausgefunden. Und mich prompt zur Arzneipflanze des Jahres 2008 ausgerufen. Allem Mottenfraß zum Trotz. Darauf bin ich richtig stolz.

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