Herbst in den Alpen: das ist die Zeit, in der sich meine Nadeln goldgelb einfärben und den Gebirgswäldern eine zauberhafte Aura verleihen. Und dann werde ich kahl. Selbst Forscher wissen nicht genau, was mich antreibt, im Winter mein Nadelkleid abzuwerfen. Für mich klingt plausibel, dass es mir bei extremen Klimabedingungen hilft, Energie zu sparen. Bevor ich mich aber entkleide, entziehe ich meinen Nadeln noch einmal alle Nährstoffe – weswegen sie dann diese leuchtend gelbe Farbe annehmen und Ihnen den Herbst vergolden.
Meine weltweit dicksten und vermutlich ältesten Verwandten wachsen bei Sion im Schweizer Wallis auf etwa 2.000 m Höhe. Und es sind viele: Zu 250 verteilen sie sich auf den dortigen Bergwiesen – mit über 3 Meter dicken Stämmen und Wurzeln, mit denen sie sich seit 1.250 Jahren tief und stabil im Boden verankern. Unter blauem Himmel und vor dem Panorama schneebedeckter Gipfel geben sie ein spektakuläres Bild.
Sie merken schon: Ich bin ein Baum der Mittel- und Hochgebirge. Wie viele andere Bäume überdauerte ich die letzte Eiszeit in den Karpaten. In den höheren Lagen der Alpen bin ich manchmal sogar die dominierende Baumart. Kaum eine andere heimische Baumart ist so frosthart wie ich. Ich vertrage Temperaturen von minus 40 Grad Celsius. Außerdem kann ich erwiesenermaßen beim Schutz vor Lawinen helfen. Sie können mich aber auch problemlos im Flachland pflanzen. Ich bin ein guter Garten- und Parkbaum, da meine Äste sehr viel Licht durchlassen. Das schöne Leuchten, bevor ich meine Nadeln abwerfe, nicht zu vergessen.
Mit der Zirbelkiefer – einer Verwandten der Wald-Kiefer – erreiche ich in den Bergen die obere Baumgrenze. Ich selbst wachse bis auf 2.500 Meter Höhe. Gemeinsam bilden wir dort auch eine Waldform, die sich Arven-Lärchenwald nennt. Dass wir so gut harmonieren, hat mit den Menschen zu tun – sie halten für mich die schattenverträglichere Zirbelkiefer im Zaum. Täten sie das nicht, hätte sie mich längst verdrängt. Überall dort, wo es sich anbot, haben sie die Zirbelkiefern in den aus den Gebirgswäldern ausgedünnt. Nicht uneigennützig übrigens, denn so entstanden Licht durchflutete Wälder, die sie für die Weidewirtschaft nutzten.
Jetzt werden Sie vielleicht einwenden: Die alpine Weidewirtschaft ist doch heute mehr eine romantische Idee als eine wirtschaftliche Betätigung. Tatsächlich ist sie auf dem Rückzug. Und tatsächlich würden deshalb auch wieder vermehrt Zirbelkiefern wachsen – wenn ich nicht in einer ungeplanten, aber sehr effektiven Allianz mit dem Grauen Lärchenwickler ein neues Ökosystem begründet hätte. Und das funktioniert so: Wie der Name vermuten lässt, befällt der Graue Lärchenwickler erst einmal mich. Er frisst mich kahl und hat dann immer noch Hunger. Deshalb springt er auf die Zirbelkiefer und macht dort das Gleiche. Während mich dieser Kahlfraß zwar hässlich macht, aber nicht absterben lässt, kommt die Zirbelkiefer damit weniger gut klar. Sie wird anfällig für andere Schädlinge und wenn sie nicht stirbt, dann verkümmert sie zumindest in ihrem Wuchs. Und bleibt dabei so klein, dass sie mir nicht mehr schadet.
Gutes Bootsholz
Bislang nehme ich etwa ein Prozent der deutschen Waldfläche ein, werde aber bei den Förstern immer beliebter. Ich bin robust und mein Holz ist eines der wertvollsten und härtesten heimischen Nadelhölzer. Sein Harzgehalt ist hoch und deshalb ist es sehr dauerhaft und sogar unbehandelt im Außenbereich einsetzbar: für Fassaden, Brücken Zaunlatten oder als Konstruktionsholz für innen und außen. Als Bootsholz halte ich leicht 500 Jahre. Die Böttcher wiederum sagen, ich lieferte das beste Holz für Kübel und Bottiche.
Um noch einmal auf meine Nadeln zurückzukommen: In den Engadiner Alpen sind sie verantwortlich für ein einzigartiges Phänomen. In dem kleinen Ort Sils fallen sie im Herbst von den ufernahen Bäumen in den Silsersee. Der dort ständig wehende und oft starke Talwind erledigt dann den Rest: Er treibt sie ans Ufer, wo sie sich durch ständiges Hin- und Herrollen zu Kugeln formen, die im Laufe der Zeit immer größer werden. Es gibt »Silser Kugeln«, die einen Durchmesser von 20 cm haben. So groß sind die Törtchen, die man in den örtlichen Konditoreien als Reminiszenz an dieses Naturwunder kaufen kann, natürlich nicht. Sie schmecken allerdings um einiges vorzüglicher, als meine Nadeln. Ob der Philosoph Friedrich Nietzsche sie genossen hat, als er in Sils unter anderem den zweiten Teil von »Also sprach Zarathustra« schrieb, weiß ich nicht genau. Die Landschaft aber – so formulierte er es mit eigenen Worten – sei ihm »blutsverwandt«.