Ein altes Liebesorakel geht so: Zwischen Weihnachten und Neujahr soll sich ein lediges Mädchen um Mitternacht unter einen Birnbaum stellen. Dort soll sie ihre Holzschuhe ausziehen und sie in den Baum werfen. Bleiben sie an einem der Äste hängen, bleibt im folgenden Jahr auch ein Jüngling bei ihr »hängen«. Was das Mädchen ihren Eltern erzählen soll, wenn es ohne Schuhe und mit verfrorenen Füßen nach Hause kommt – davon erzählt das Liebesorakel nichts. Auch, woher der Brauch stammt, ist mir nicht geläufig. Woher ich stamme und was mich als Holzbirne ausmacht, darüber erzähle ich Ihnen aber gerne etwas.
Erst einmal: der Clan der Holzbirnen – wie echte Wild-Birnen auch heißen – ist weit verbreitet. Ich persönlich bin eine direkte Vorfahrin der hiesigen Kulturbirnen. Von denen gibt es ja reichlich. Und dann sind da noch meine asiatischen Verwandten: Sie entwickelten sich vermutlich in Persien, im Kaukasus und in Südrussland. Von dort auch sind sie nach Griechenland gelangt, wo man sie schon rund 1.000 vor Christus angebaut hat.
Zur Römerzeit kannte man dann schon rund 40 verschiedene Sorten. Auch Berichte über Pfropfungen gehen in diese Zeit zurück. Heute gibt es eine Unzahl von Übergangsformen. Deshalb ist es schwer, mich als echte Holzbirne von verwilderten Kulturbirnen zu unterscheiden. Baumkundler feiern es als Sensation, wenn sie mich im Original finden. Mich von einer Kulturbirne zu unterscheiden, das ist nicht einfach: Charakteristisch ist, dass ich im in meiner Jugend viele kurze Seitenzweige habe, die mit einer stechenden Spitze enden.
Und dann natürlich meine Früchte. Sie sind kugelig bis länglich und haben im Gegensatz zu den Kulturbirnen hartes Fleisch. Das liegt daran, dass sie verholzte Zellen haben. Ehrlichen Herzens empfehlen kann ich sie nicht. Jedenfalls nicht, bevor der Frost darüber gegangen ist. Dann werden sie teigig, verlieren aber ihre bitteren Gerbstoffe. Als Dörr- oder Backobst verliere ich diesen fiesen Geschmack und kann sogar eine alternative Süßigkeit sein.
Gemeinsam mit Kulturbirnen und Äpfeln verarbeitet, liefere ich aber einen veritablen Branntwein oder Essig. Früher wurde aus meinen Birnen auch Sirup gewonnen, der als Zuckerersatz diente. Und wenn es mal ganz schlecht läuft, kann man aus meinen Samen auch Speiseöl herstellen. Aus 25 kg Kernen presst man rund 3 kg Birnbaumöl.
Auch wenn meine Früchte bitter schmecken: Förster und Bauern haben sie schon im Mittelalter als Wildfutter und zur Mastergänzung bei der Schweinezucht verwendet. Schalenwild und Birkwild äsen sowohl meine Früchte als auch meine Schösslinge. Bienen und Insekten lieben natürlich meine Blüten. Ich glaube, ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich für die Ökologie ganz hilfreich bin.
Ich weiß: Äpfel und Birnen sollte man nicht vergleichen. Trotzdem: im Vergleich zum Apfelbaum wachse ich aufrecht und schlank. Weil die dünneren Äste in meiner Krone schwer an meinen Früchten tragen, neigen sie sich bogenförmig herab – das ist sehr typisch ist für mein Aussehen. Anders als der Holzapfel habe ich auch tief reichende Wurzeln. Und schließlich stammt der Apfel, den sie heute essen, nicht vom heimischen Holzapfel ab, sondern hat asiatische Vorfahren.
Auf dem Holzmarkt bin ich rar und werde fast schon zu Liebhaberpreisen in die Möbeltischlerei verkauft. Dort verwendet man mein Holz für wertvolle Intarsienarbeiten oder Furniere. Und wenn man mich dunkel beizt – sogar als Imitat für Ebenholz. Auch zum Drechseln eigne ich mich. Vor allem für Gegenstände, die Präzision erfordern. Es ist nämlich so, dass mein Holz sehr passgenau ist und deshalb ideal ist für Winkel, Lineale oder Messstäbe.
Am liebsten gedeihe ich an sonnigen Hecken oder in lichten Mischwäldern. Wegen meines Lichtbedarfs bin ich anderen Arten gegenüber nicht so konkurrenzfähig und werde von ihnen auf trockene Standorte verdrängt. Wenn überhaupt, dann stehe ich heute an der Trockengrenze des Waldes. Zum Beispiel auf Mittelgebirgshängen, die nach Südwesten ausgerichtet sind. Aber auch in Auenwäldern an Rhein und Elbe kann man mich antreffen. Weil ich die Wärme brauche, komme ich im nördlichen Europa nicht vor. In Deutschland stehe ich in einigen Bundesländern auf der roten Liste der bedrohten Arten. Wer mich also fördern und anpflanzen will, sollte genug Licht im Garten haben – und irgendwo wohnen, wo es nicht so doll friert. In Lübeck? Ich glaube, das ginge gerade noch so.