Veröffentlicht am 27.10.2007

„Es möglich ist, zu den eigenen Überzeugungen zu stehen“

Festrede von Juli Zeh beim Festakt zum 80. Geburtstag von Günter Grass in Lübeck

Die Schrifstellerin Juli Zeh hielt bei der Festveranstaltung anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Günter Grass am 27. Oktober 2007 im Lübecker Theater folgende Rede:

„Lieber Günter Grass,

wir leben in einer Zeit, in der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten "Generation" eine Art Glaubensbekenntnis geworden ist. Die jeweilige Generation soll bestimmen, was die Menschen fühlen und denken. Vom Geburtsjahr soll abhängen, welche Probleme und Wünsche wir haben, wovor wir uns fürchten, worauf wir hoffen - und nicht zuletzt, was wir kaufen und von wem. Das Einigeln in eine Altersgruppe schenkt das letzte bisschen Nestwärme, welches in Gesellschaft, Politik und Familie angeblich verloren gegangen ist.

Generationen haben Inflation. Sie schießen als Medienpilze aus gut gedüngtem Umfrage-Boden. Natürlich gibt es die Sechziger, Siebziger, Achtziger und das Beste von heute. Aber es gibt auch die Generation X und die Generation Golf, die Generationen Praktikum, Internet, Benedikt und MTV; demnächst auch eine Generation Sushi und eine Generation Kartoffelchips. Bald hat jeder Bundesbürger seine eigene Generation, und dann leben wir in einer Republik aus 80 Millionen Ein-Mann-Generationen.

Lieber Günter Grass, wenn mein vier Jahre jüngerer Bruder im Minutentakt der Generationen bereits mein Urenkel sein könnte - in welchem fiktiven Verwandtschaftsverhältnis stehen wir beide dann zueinander? Um das zu bestimmen, müssten wir auf Lichtjahre zurückgreifen und kämen zu dem Schluss: Nach dieser Zeitrechnung entstammen wir völlig verschiedenen Sonnensystemen. Was ich hier rede, dürften Sie eigentlich gar nicht verstehen. Und wenn ich Ihnen zuwinke, müssten Jahre vergehen, bis Sie es sehen.

Das ist das Bösartige an den Generationen: Sie vergrößern die Entfernungen. Auf den ersten Blick könnte man sich ja freuen, wenn Menschen lieber mit Alterskollegen kuscheln, statt ihre dringend benötigte "Identität" über Ideologien, Religionen oder Nationalitäten zu bestimmen. Letzteres führt erfahrungsgemäß über kurz oder lang in die Katastrophe. Aber auch das Bilden von Generationen funktioniert eben über die Mechanismen von Aus-, Ab- und Eingrenzung. Um zu wissen, wer dazu gehört und wer nicht, muss man Barrieren errichten. Da ist das Lebensalter ein äußerst komfortables Unterscheidungsmerkmal. Erstens kann man es im Personalausweis ablesen. Zweitens bringt es eine klare Hierarchie der Werte mit sich.

Wir wissen es alle längst: Jung muss man sein, fit muss man sein, gesund und schön muss man sein. Der Materialismus hat uns so weit gebracht, dass wir die Qualität eines Menschen erst einmal nach dem Zustand seiner Hardware bemessen. Der Körper geht allem anderen voran. Was sich in den Köpfen abspielt, ist demgegenüber Nebensache. Wer will schon intellektuelle Diskurse führen, während er kopfüber an einem Gummiseil hängt oder sich mit den Fingernägeln an eine Felswand krallt? - Neulich bemäkelte eine Rezension, die Figuren in einem zeitgenössischen Roman seien alle so schwach und nervtötend kränklich. Ziehen die Krankenkassen uns Schriftstellern also bald Bonuspunkte ab, wenn unser literarisches Personal nicht voll bei Kräften ist? - Es gab Zeiten und es gibt Gegenden, in denen das Alter für seinen Erfahrungsreichtum geschätzt wird. Heute nennt man es schlicht ein "demographisches Problem".

Weil möglichst viele Menschen möglichst lange nicht zur Abteilung Ramsch- und Ausschussware gehören möchten, hat man die Jugend bis zum vierzigsten Lebensjahr ausgedehnt; auf Antrag und nach Eignungsprüfung auch bis fünfzig. Ab sechzig sind wir dann schlecht platzierte Bausteine in der Alterspyramide, und die Zeit dazwischen heißt "Mid-Life-Crisis". Praktischer Effekt dieser Mentalität ist, dass eigentlich kein Vertreter egal welcher Generation am Erwachsenenspiel des politischen Lebens teilnehmen dürfte. Wir sind entweder zu jung oder zu alt oder temporär nicht zurechnungs- und verantwortungsfähig.

Sie, lieber Günter Grass, sind ein überaus zurechnungs- und verantwortungsfähiger Mensch. Sie haben die Teilnahme am politischen Leben stets als Ihr Recht, vielleicht auch als Ihre Pflicht betrachtet. Ich frage mich manchmal, was Sie sehen, wenn Sie uns Ewigjugendliche betrachten. Vierzigjährige binden sich das Haar zu Mädchenzöpfen. Erwachsene Menschen kaufen Autos und Kaffeemaschinen, die wie buntes Plastikspielzeug aussehen. Jeden zweiten Sonntag laufen Zehntausende beim Stadtmarathon mit, aber zum Demonstrieren haben sie weder Lust noch Zeit. Zum Kinderkriegen fühlen sie sich zu jung und zum Wählen zu unentschlossen, und über Orientierungslosigkeit und die Komplexität der Welt wird geklagt, als wären wir in einer immerwährenden Pubertät stecken geblieben. - Das sind Bürger, denken Sie vielleicht, mit denen im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist. Weil diese Bürger ja selbst keinen Staat machen wollen.

Einst galt doch die Überzeugung, dass ein demokratisches System die Verstandes- und Gemütsreife seiner Teilnehmer voraussetze. Heute sorgt man sich lieber um Stoffwechsel und Body-Mass-Index der ehemaligen Bürger. Das Denken hingegen, das Mitreden und Mittun wird für altbacken erklärt und als solches belächelt. So ist das Politisch-Sein in den Nimbus des Verstaubten geraten. Immer ist es unzeitgemäßer Betroffenheit oder gar der Wichtigtuerei verdächtig. Wer wagt es noch, sich selbst einen Intellektuellen zu nennen? "Intellektuelle" sind tot oder jedenfalls vom Aussterben bedroht. Der Begriff ist dabei, zum Schimpfwort zu werden.

Wie bequem! Ein Volk von Körpern, von selbsternannten Kindern lässt sich ohne Mühe verwalten. Will doch einmal jemand mitreden, wirft man ihm einfach fehlendes Expertentum vor. Bei Hannah Arendt kann man nachlesen, warum politische Fragen gerade nicht von "Experten" entschieden werden sollten. "Politisch" sind nicht die Experten, nicht die Politiker, auch nicht die Schriftsteller. Politisch ist immer nur der Mensch. Er braucht nicht mehr als Herz und Hirn dazu. Und ein bisschen Erwachsensein.

Lieber Günter Grass, wenn der Zeitgeist allein zu entscheiden hätte, dürften Sie Ihre Klappe wahrscheinlich nicht mehr aufreißen und ich meine noch nicht. Anlässlich Ihres Geburtstags würden wir uns stumm die Hand reichen. Vielleicht hätte man mich aufgefordert, hier oben ein paar schweigsame Knickse zu machen. Ohnedies müsste uns doch die Generationen-Barriere an jeder weiterführenden Verständigung hindern. Aber so ist es offensichtlich nicht. Und das habe ich, haben wir nicht zuletzt Ihnen zu verdanken. Sie haben immer auf einer Stimme beharrt, auf dem Recht, eine Meinung zu formulieren. Sie haben gezeigt, dass Denkfähigkeit und politisches Empfinden keine Frage des Alters sind - und schon gar kein Generationen-Problem.

Dass Sie diese Trennlinie überschreiten, nimmt man Ihnen übel. Die gleiche Grenzüberschreitung nimmt man auch jüngeren Menschen krumm, die sich von der anderen Generationen-Seite in Ihre Nähe wagen. Vielleicht gibt es Leute, natürlich auch eine Generation, die klaustrophobisch fürchtet, von den Eigentlich-Aussortierten und den Eigentlich-noch-nicht-Zugelassenen in die Zange genommen zu werden.

Aber wo wären wir hingekommen, wenn wir uns davon beeindrucken ließen?

Ich werde oft gefragt, ob ich eine moralische Instanz in Ihnen sehe. So, wie ich Sie einschätze, freut es Sie eher zu hören, dass ich mich seit fünfzehn Jahren erwachsen genug fühle, um selbst zu wissen, was ich für falsch oder richtig halte. Sie haben mir etwas viel Wichtigeres bewiesen: Dass man durchhalten kann. Dass es möglich ist, zu den eigenen Überzeugungen zu stehen. Mal feiert man Sie, mal dreht man Sie durch den Wolf. Aber hier sind Sie, immer noch da, ganz und gar. Für mich heißt das: Es gibt etwas in der Welt, für das sich das Durchhalten lohnt. Man muss nicht alle Ideen miteinander teilen, aber teilen muss man Wunsch und Willen, diese Welt als einen lebenswerten Ort zu gestalten. Bei diesem Versuch existieren keine Mannschaften unter den Flaggen "alt" und "jung".

Deshalb stehe ich hier. Deshalb stehe ich gern hier und wünsche Ihnen, Günter Grass, von Herzen alles Gute zum Geburtstag.“

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