Anlass und Verfahren
In Lübeck soll der Weg frei gemacht werden für fundamentale Verbesserungen im ÖPNV, denn das Mobilitätsverhalten in Lübeck ist derzeit noch geprägt von einem hohen Anteil des Autoverkehrs. Dies hat negative Folgewirkungen in Bezug auf den CO2-Ausstoß oder eine starke Belastung der Wohnquartiere durch den ruhenden Verkehr. Um hier eine Verkehrswende zu erreichen, muss Lübeck verstärkte Anstrengungen unternehmen, um den Umweltverbund zu befördern. Dies soll insbesondere durch sogenannte „Pull-Maßnahmen“ erfolgen – also Maßnahmen, die durch verbesserte Angebote Menschen dazu bewegen, den Umweltverbund stärker als bisher zu nutzen.
Erster Schritt in diese Richtung soll der 5. Regionale Nachverkehrsplan (RNVP) sein, der für die kommenden Jahre deutliche Verbesserungen im Busverkehr vorsieht. Neben der Einführung von 10-Minuten-Taktachsen soll ein sog. Integraler Taktfahrplan implementiert werden, der optimierte Anschlüsse, insbesondere an den Bahnhaltepunkten sowie die Einführung einer stadtweiten Fahrplansymmetrie vorsieht. Die mögliche Einführung einer Straßenbahn bietet darauf aufbauend eine langfristige Perspektive für die Weiterentwicklung des ÖPNV.
Der ebenfalls in Aufstellung befindliche Verkehrsentwicklungsplan (VEP) für das Zieljahr 2040 stellt eine integrierte Planung dar, die für sämtliche Verkehrsarten den Bedarf prognostiziert, damit das Verkehrsnetz darauf hin ausgelegt werden kann. Dabei sind politische Zielwerte für den zukünftigen Verkehr zu berücksichtigen und Maßnahmen aufzuzeigen, wie diese Zielwerte erreicht werden können. In der VO 2020/09617 sowie der VO 2021/10558-08-01 wurde beschlossen, den Modal Split-Anteil nach Wegen des ÖPNV (d. h. Hauptwege mit Bus, Bahn und Taxi) gemäß Grundlagenbeschluss für den VEP von derzeit 11 % auf
20 %, sowie den Modal Split-Anteil des ÖPNV nach Verkehrsleistung von derzeit 27 % auf 40 % zu erhöhen und damit die Verkehrswende in Lübeck voranzubringen.
Zentrale Herausforderung wird dabei sein, die Anforderungen der verschiedenen Verkehrsarten übereinander zu bringen. Die Ausweitung des ÖPNV – insbesondere die Einführung einer Straßenbahn – wird zwangsläufig auch zu Konfliktpunkten in der Flächenkonkurrenz mit dem Kfz- und dem Radverkehr geraten. Insbesondere die Verteilung des öffentlichen Raums wird daher ein wichtiges Thema im VEP darstellen. Das Straßenbahngutachten klammert diese möglichen Zielkonflikte zunächst aus. Es obliegt dem VEP-Hauptgutachten, am Ende die unterschiedlichen Anforderungen in Einklang zu bringen und bei begrenztem öffentlichen Raum sinnvolle Kompromisse aufzuzeigen.
Methodik
Das Straßenbahngutachten umfasst kurz zusammengefasst folgende Arbeitsschritte:
- Prognose des Fahrgastpotenzials im Stadtraum
Um möglichst viel Nachfrage zu generieren, wurden im städtischen Verkehrsmodell Linienverläufe unterstellt, die ein hohes Maß an Wohnbevölkerung (verdichtetes Wohnen) und wichtige Quelle-Ziel-Standorte (zentrale Versorgungsbereiche, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, …) bedienen können.
- Prüfung der Machbarkeit
Die in Frage kommenden Korridore wurden grob auf ihre bauliche Machbarkeit geprüft. Hierbei wurden Korridore ausgeschlossen, für die die Indikation des Verkehrsmodells zwar hinreichende Nachfrage aufzeigte, aber baulich deutliche Herausforderungen aufweisen und für die ein gleichwertiger anderer Korridor existiert. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Durchfahrbarkeit der Altstadt sowie realisierbare Führungsformen gelegt.
- Festlegung straßenbahnwürdiger Korridore und Ableitung Liniennetz
… auf Basis der beiden ersten Arbeitsschritte, die iterativ erfolgen.
- Entwicklung eines ergänzenden Busnetzes
Auch bei einem realisierten Straßenbahnnetz sind weiterhin Buslinien zur Erschließung der nicht von der Straßenbahn erschlossenen Stadtteile notwendig. Das begleitende Busnetz wurde aufbauend auf das Straßenbahnnetz ausgearbeitet.
- Abschätzung der Aufwendungen
Mit Hilfe des neuen Verkehrsmodells der Hansestadt Lübeck konnten die Nachfrageeffekte der unterschiedlichen Trassenvarianten untersucht werden. Dadurch wird gewährleistet, dass das erarbeitete Liniennetz verkehrlich sinnvoll den größtmöglichen Potentialen folgt.
Ausprägungen des Liniennetzes
Verkehrsplanerisch können die Ergebnisse des Gutachtens wie folgt zusammengefasst werden:
- Im Lübecker Stadtgebiet sowie in die angrenzenden Kommunen Stockelsdorf und Bad Schwartau bestehen mehrere Korridore, auf denen eine hohe potenzielle Fahrgastnachfrage besteht, welche die Einführung einer Straßenbahn rechtfertigen. Es wurden zunächst vier Straßenbahnlinien definiert, auf denen die potenzielle Nachfrage besonders hoch ist und durch welche man eine hohe Netzabdeckung erreicht. Auch handelt es sich um Trassen, bei denen der bauliche Aufwand im Vergleich weniger hoch ausfällt.
- Derzeit kommt der ÖPNV (mit Bus, Bahn und Taxi) noch auf 194.732 Personenfahrten pro Werktag in der Region Lübeck und 73.300 Personenfahrten im Lübecker Binnenverkehr. Durch die Einführung einer Straßenbahn mit Busergänzungsnetz belaufen sich diese Zahlen auf insgesamt täglich 234.018 Fahrten in der Region und 100.966 im Binnenverkehr. Eine höhere Anzahl ist möglich, wenn das Liniennetz ausgeweitet wird.
- Die Umsetzung einer Straßenbahn in Lübeck ist baulich möglich, auch wenn nicht überall im Stadtgebiet optimale Voraussetzungen bestehen. So ist die Durchfahrbarkeit der Altstadt zwar möglich, stellt aber gleichzeitig einen begrenzenden Faktor dar. Eine separate Führungsform als „besonderer Bahnkörper“ ist grundsätzlich optimal, ist aber nur in bestimmten Abschnitten möglich (23% des Netzes in beide Richtungen, 33% in eine Richtung). An vielen Stellen müsste die Straßenbahn gemeinsam mit den Kfz im Mischverkehr geführt werden (41% des Netzes). 3% verlaufen eingleisig.
Ein mögliches Straßenbahnnetz in Lübeck würde vier Linien vorsehen, die im Zehn-Minuten-Takt verkehren würden (vgl. Abb. 1):
- Linie 1: Bad Schwartau – UKSH (11,7 km)
- Linie 2: Cleverhof – Hochschulstadtteil (11,4 km)
- Linie 3: Stockelsdorf – Eichholz (9,6 km)
- Linie 4: Buntekuh – Marli / Kaufhof (9,1 km)
Mit diesem Straßenbahnnetz werden die Stadtteile und Hauptziele (z. B. Hbf / ZOB, Innenstadt, Universität, UKSH) mit dem größten Fahrgastpotenzial erschlossen. Aus dem Netz mit vier Linien auf der Altstadtinsel ergibt sich auch die Möglichkeit, weniger Busse im Kerngebiet der Altstadt fahren zu lassen. Daraus ergeben sich auch Chancen für die städtebauliche Aufwertung des Straßenbahnumfelds. Die vier Linien fahren jeweils im Zehn-Minuten-Takt und gewährleisten damit einen leicht merkbaren und attraktiven Fahrplan mit sechs Abfahrten pro Stunde in Haupt- und Nebenverkehrszeit. Aus Überlagerungen im Linienverlauf ergeben sich Taktverdichtungen, beispielsweise bei den Linien 1 und 2, die im gemeinsamen Abschnitt im exakten Fünf-Minuten-Takt verkehren. Darüber hinaus wird insbesondere in der Altstadt das Angebot durch Linienüberlagerungen verdichtet, weil hier alle vier Linien verkehren und die Hauptrelation zum Hauptbahnhof bedienen.
Abb. 1: Straßenbahn-Liniennetz
Die Neuimplementierung eines Stadtbahnnetzes zeichnet sich durch folgende Parameter aus:
- Straßenbahnen gelten als wichtiges Instrument zur Verkehrswende im straßengebundenen ÖPNV, wenn es um eine besonders große Hebelwirkung in Bezug auf die Fahrgastzahlen geht; durch den im Vgl. zu einem Busverkehrssystem deutlich erhöhten Komfort (sog. Schienenbonus), gelingt es mit einer Straßenbahn deutlich mehr wahlfreie Fahrgäste anzusprechen – dies sind Fahrgäste, die theoretisch auch mit dem eigenen Auto fahren könnten
- Städte mit schienengebundenen Nahverkehrssystemen (Straßen- / Stadtbahn, U-Bahn) erreichen im Durchschnitt einen deutlich höheren ÖPNV-Anteil am Modal Split; mit einem Anteil von 20,2 % nach Hauptwegen liegt dieser fast doppelt sich hoch wie bei anderen Städten (11,5%). Der höhere ÖPNV-Anteil verringert dabei vorwiegend Wege mit dem MIV
- Straßenbahnsysteme weisen höhere Beförderungskapazitäten pro Fahrzeug (mehr als 200 Fahrgäste) im Vgl. zum Bus (100 Fahrgäste pro Gelenkbus) auf und ermöglichen dadurch eine erhebliche Kapazitätserhöhung auf dicht belegten Innenstadtrelationen, die so mit dem Bus nicht möglich wäre (im Fall von Lübeck: Zugang für deutlich mehr Menschen pro Stunde auf die Altstadtinsel im Vgl. zu Bus oder Auto)
- Straßenbahnen gelten als einziges innerstädtisches Verkehrsmittel, deren Infrastruktur dank des Rasengleises Flächenversiegelung aktiv entgegenwirken kann und für eine Verbesserung des Mikroklimas sorgt (Schaffung 0,5 ha urbaner Grünflächen pro Strecken-km mit Rasengleis)
- die Frage nach einer klimaneutralen Ausgestaltung des ÖPNV geht abseits einer Straßenbahn, die seit vielen Dekaden ausgereifte E-Mobilität bietet, mit technischen Herausforderungen einher. Die ersten Elektrobusse befahren bereits die Lübecker Straßen, allerdings sind diese in Bezug auf Einsatzmöglichkeiten und Reichweite den Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor noch deutlich unterlegen; Klimaneutralität kann hier wahrscheinlich nur mit deutlich verbesserten Batterien, Oberleitungs- oder Wasserstoff-basierten Lösungen erzielt werden
Aufwendungen
Insgesamt ist für die Realisierung einer Straßenbahn mit investiven Baukosten von ca. 640 Millionen € zu rechnen. Insbesondere für die Herrichtung der Verkehrswege (einschließlich z.B. Brückenbau) stehen jedoch attraktive Förderprogramme bereit. Der städtische Anteil beliefe sich bei einem angenommenen Förderanteil von 90 % aus GVFG-Mitteln (wird so derzeit von Kiel angestrebt) dadurch voraussichtlich auf ca. 64 Mio. €. Bei diesen Werten handelt es sich um Pauschal- bzw. Schätzwerte. Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie sind diese zu verifizieren. Zudem hat das Land Schleswig-Holstein angekündigt die GVFG-Mittel dauerhaft zu reduzieren. Erhebliche Kosten entstehen darüber hinaus durch Investitionen in Betriebshöfe und Fahrzeuge, die nicht förderfähig sind. Diese belaufen sich auf ca. 171 Mio. € für Fahrzeuge und ca. 95 Mio. € für den Betriebshof.
Als weiterer Kostenpunkt wären zusätzliche Personalstellen in der Bauverwaltung erforderlich. In Kiel sind derzeit acht Personen in der Stabstelle Mobilität mit der Einführung der Straßenbahn betraut. Diese ist federführend für die Stadtbahnplanung zuständig. Für die nächste Planungsphase ist ein weiterer Aufwuchs vorgesehen, aktuell steht die Ausschreibung fünf weiterer Stellen an. Hinzu kommen in den meisten beteiligten Fachämtern Projektkoordinator:innen, die die Stadtbahnbelange bearbeiten. Diese Stellen verteilen sich auf das Tiefbauamt, Stadtplanungsamt, Umweltschutzamt, Grünflächenamt und den Eigenbetrieb Beteiligungen (Vorhabenträger ÖPNV). Hierbei sind nicht alle Stellen besetzt, aber insgesamt acht Stellen eingeplant.
Neben den hohen Kosten sind die umfangreichen Bauarbeiten nicht zu vernachlässigen. Es muss davon ausgegangen werden, dass dort, wo die Straßenbahn fahren soll, der komplette Straßenraum umgebaut werden muss – über- und unterirdisch – wodurch erhebliche Belastungen für die Einwohner:innen Lübecks entstehen. Dies wird nicht überall gleichzeitig passieren, aber über viele Jahre hinweg. Zahlreiche Brücken müssen ertüchtigt werden. Betroffene Bahnübergänge müssen mit entsprechenden Über- bzw. Unterführungen niveaufrei umgebaut werden. Das genaue Ausmaß hiervon wäre ebenfalls im Rahmen einer vertiefenden Studie zur Machbarkeit zu ergründen. Der Umbau des kompletten Straßenraums bietet gleichzeitig jedoch die Chance, den Straßenraum neu zu ordnen und zu gestalten.
Erforderliche weitere Schritte und Umsetzung
Entscheidend für die Inanspruchnahme von Fördermitteln (teils bis zu 90 % der Umsetzungskosten) wäre eine Nutzen-Kosten-Untersuchung (NKU), die einen Wert von >1 erzielen muss. Dies sollte der nächste Schritt sein.
Ursprünglich war die Durchführung einer NKU im Rahmen des vorliegenden Gutachtens vorgesehen. Allerdings zeigten sich hierbei im Prozess mehrere Probleme: An einigen Punkten kann das als Potentialanalyse gedachte Gutachten noch nicht die entsprechende Detailtiefe erreichen, die für diese Berechnung notwendig ist. Zum anderen ist für die Berechnung der NKU der Vergleich mit einem sogenannten Ohnefall notwendig. Der Ohnefall ist hierbei das „Verkehrswendeszenario“ als das Szenario, in dem die zugrundeliegenden verkehrsplanerischen Ziele mit anderen Mitteln – in diesem Fall nur mit Bussen – erreicht werden sollen.
Das „Verkehrswendeszenario“ konnte aufgrund der Abhängigkeiten im Prozess mit dem 5. Regionalen Nahverkehrsplan (5. RNVP) erst parallel zum Straßenbahngutachten fertiggestellt werden.
Im Gutachten wurden ausschließlich jene Linientrassen näher betrachtet, die die größten Potentiale aufweisen und gleichzeitig baulich gut umsetzbar erscheinen. Darüber hinaus wäre es denkbar, weitere Trassenverläufe detaillierter zu prüfen, um ggf. ein umfangreicheres Netz weiter zu verfolgen. Hierzu zählen z. B. auch Linienäste nach Kücknitz und Moisling, die zunächst aufgrund baulicher Herausforderungen nicht berücksichtigt worden sind.
Auch wenn die vorliegende Studie bereits einige Aspekte der Machbarkeit geprüft hat, handelt es sich noch nicht um eine vollwertige Machbarkeitsstudie. In einer solchen müssen alle Trassenverläufe festgelegt werden und die Machbarkeit detailliert betrachtet werden. Die Kostenberechnung erfolgt dann nicht mit Pauschalwerten. In einer solchen vertiefenden Untersuchung müssten dann auch im Detail bspw. die Belange der Feuerwehr vor allem im Hinblick auf Flächen zur Sicherstellung der zweiten Rettungswege aus den Obergeschossen berücksichtigt werden. Hierbei sind die einschlägigen Regelwerke und Fachempfehlungen zu berücksichtigen. Ebenso würden hierbei dann auch mit an sämtliche Bedarfe der Abfallentsorgung gedacht. Ebenfalls zu berücksichtigen wären dann auch die vorhandenen Leitungen unter möglichen Straßenbahn-Trassen (Regen- und Schmutzwasser, Versorger, Telekommunikation etc.). Im Allgemeinen verbleibt diese Infrastruktur nicht unter einer Trasse, um bei späteren Bauarbeiten keine Sperrung des Straßenbahnnetzes notwendig werden zu lassen.
Die Verlegung wird ebenfalls gefördert, ist aber frühzeitig zu planen.
Auf Grundlage einer vertieften Machbarkeitsstudie könnte dann endgültig beschlossen werden, ob eine Straßenbahn umgesetzt werden soll. Auf Basis einer zu erstellenden Genehmigungsplanung und der zu erteilenden Genehmigung (Planfeststellung) könnte bestenfalls noch in den 2030ern gebaut werden.
Gleichwohl ist im Hinblick auf eine mögliche Umsetzung zu konstatieren, dass Straßenbahnprojekte trotz der einschlägigen Vorteile keinesfalls Selbstläufer sind und auch immer wieder zu beobachten ist, dass diese Widerstand aus der Bevölkerung ausgesetzt sind, bei dem es vor allem um die notwendigen Bauarbeiten, die Baukosten und die Flächenkonkurrenz mit dem Motorisierten Individualverkehr (MIV) geht. Beispiele für Projekte, die bei Bürgerentscheiden gescheitert sind, sind u. a. in Aachen, Plankstadt, Wiesbaden und Tübingen zu finden. Jüngst sprach sich in zwei Bürgerentscheiden in Bayern, die im Zuge der Europawahl am 09.06.2024 durchgeführt wurden, eine knappe Mehrheit in Erlangen (52,4 %) für die Realisierung einer Straßenbahn aus und in Regensburg eine knappe Mehrheit (53,6 %) gegen die Realisierung einer Straßenbahn aus.
Zusammenspiel 5. RNVP (VO/2024/13416), „Verkehrswendeszenario“ (VO/2024/13415) und Potenzialanalyse Straßenbahn und Fazit
Können die politisch beschlossenen Ziele für den ÖPNV in Lübeck erreicht werden? Das im Rahmen des 5. RNVP neu entwickelte Busnetz kann spürbar mehr Nachfrage von 10 % in der Hauptverkehrszeit generieren. Bei dem Zielwert von 20 % ÖPNV-Modal-Split-Anteil nach Wegen handelt es sich allerdings um eine sehr ambitionierte Vorgabe, die durch den 5. RNVP bei weitem noch nicht erreicht werden kann. Eine zehnprozentige Steigerung bei einem derzeitigen Modal-Split-Anteil von 11 % wird zu einer Steigerung des Modal Split-Anteils nach Wegen von 1 bis 2 Prozentpunkten führen.
Das im Rahmen des 5. RNVP beauftragte „Verkehrswendeszenario“ soll aufzeigen, wie und ob die Zielwerte langfristig mit einem reinen Busverkehrssystem erreicht werden können. Dabei wurden allerdings nur Angebotsmaßnahmen unterstellt – keine Push-Maßnahmen. Bei der Angebotsstruktur wurde darauf geachtet, dass ein sinnvolles Verhältnis zwischen Nutzen und Aufwand gewahrt wird. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass bei einem reinen Bussystem mit vertretbaren Maßnahmen rd. 16 % Modal-Split-Anteil erreicht werden können. Die Zielmarke von 20 % Modal-Split-Anteil kann damit allerdings nicht erreicht werden, da auf vielen Achsen eine Nachfragesättigung auftritt (d. h. eine dann noch dichtere Taktung würde nicht weiter zu einer höheren Nachfrage führen) und die Strecken mit Bussen in der Altstadt dann bereits am Ende ihrer Kapazität angekommen sind.
Das Straßenbahngutachten kommt in der aufgezeigten Form mit den vier unterstellten Straßenbahnlinien und dem Busergänzungsnetz auf einen ÖPNV-Modal-Split-Anteil nach Wegen von 15,4 % (alle ÖPNV-Hauptwege in/aus/nach Lübeck mit Bus, Bahn und Taxi). Dabei sind allerdings zwei Aspekte zu bedenken:
- Das heutige Busnetz kommt auf 31.000 Wagenkilometer / Tag. Dies ist der Leistungsumfang, der mit den Bussen und dem Fahrpersonal erbracht wird. Dieser Leistungsumfang wird im „Verkehrswendeszenario“ um 117 % auf 67.000 Wagenkilometer / Tag erhöht. Entsprechend müssen mehr als doppelt so viele Busse und Fahrer:innen eingesetzt werden. Mit der Straßenbahn erhöht sich die Leistung dagegen lediglich um 7,5 % auf 33.000 Wagenkilometer / Tag. Dies bedeutet, dass ein vergleichbarer Nachfragewert mit deutlich geringerem Einsatz von Fahrzeugen und Personal erreicht werden kann. Die laufenden Betriebskosten sind damit niedriger – allerdings bei deutlich höheren Aufwendungen zur Implementierung der Straßenbahn.
- Das Straßenbahnnetz kann theoretisch über die vier Linien hinaus ausgeweitet werden, um einen noch höheren Modal-Split-Wert zu erreichen – hierbei steht jedoch die Frage im Raum, ob dies das Nutzen-Kosten-Verhältnis nicht verschlechtert.
Die Empfehlung, ob langfristig eher die Straßenbahn oder das Verkehrswendeszenario empfohlen werden sollte, hat sich die Verwaltung nicht leicht gemacht. Grundsätzlich besteht in der Stadt- und Verkehrsplanung Einigkeit, dass eine Straßenbahn ein hervorragendes Instrument darstellt, als potentiell klimaneutrales Transportmittel die Verkehrswende voranzubringen – sie stellt eine echte Chance für die Lübecker Stadtentwicklung dar. Dem stehen allerdings aus Sicht der Verwaltung erhebliche Risiken gegenüber:
- Die dargestellten Kosten sind (trotz Förderung) extrem hoch. Auch wenn sich die derzeitige finanzielle Situation der Hansestadt zukünftig bessert, wäre die Implementierung der Straßenbahn eine enorme Belastung des städtischen Haushalts.
- Die jetzige Baustellensituation in Lübeck wird von weiten Teilen der Einwohner:innen bereits als sehr negativ wahrgenommen. Der Bau der Straßenbahn würde dieses negative Stimmungsbild voraussichtlich vervielfachen.
- Vor allem im Bereich der engen Altstadt steht der Bau der Straßenbahn womöglich in Konkurrenz zum Ausbau der Wärmenetze, da diese in der Regel nicht übereinander gebaut werden.
- Auch stellt der Bau einer Straßenbahn eine Festlegung auf einen Verkehrsträger für viele Jahrzehnte dar. Es ist nicht absehbar, wie sich Mobilitätstechnologien in den kommenden Jahren entwickeln werden. Es wäre bedauerlich, wenn die Straßenbahn eines Tages erneut als nicht zukunftsgerecht wahrgenommen würde.
- Trotz anfänglicher Begeisterung und weit fortgeschrittener Planungen können Straßenbahnprojekte kurz vor Baubeginn noch gestoppt werden, wie zahlreiche Beispiele verdeutlichen. Dies stellt auch mit Blick auf den Personal- und Ressourceneinsatz der Verwaltung ein erhebliches Risiko dar.
Letztlich ist der zu erwartende Nutzen aber auch geringer ausgefallen als erwartet. Der prognostizierte Modal-Split-Wert von 15,4 ist dann doch zu weit von der 20 %-Zielmarke entfernt, als dass er große Euphorie hervorrufen würde. Diese bräuchte es aber – und zwar in der gesamten Stadtgesellschaft und auch dauerhaft – um so eine Generationenaufgabe erfolgreich zu bewältigen.
Daher empfiehlt die Verwaltung, von weiteren Planungsschritten für eine Straßenbahn abzusehen. Dadurch besteht Klarheit für die Ausgestaltung des VEP, der sich bei der Gestaltung der Verkehrswende zielgerichtet auf die Planung von Bustrassen, Velorouten und die Regio-S-Bahn fokussieren kann.