Die Hansestadt Lübeck (HL) hat die mobilité Unternehmensberatung am 11.09.2019 beauftragt, ein Gutachten zur Beurteilung der Auswirkungen und Kosten bei Veränderungen der Organisationsstrukturen, der ÖPNV-Tarife und Tarifstrukturen in der Hansestadt Lübeck zu erstellen. Vorangegangen waren verschiedene Prüfaufträge und Beschlüsse aus der Politik. Die Ergebnisse der einzelnen Prüfaufträge sind in der Anlage 4 des Gutachtens aufgeführt.
Das Gutachten wurde in enger Abstimmung mit der HL und dem Stadtverkehr Lübeck (SL) erstellt. Ferner wurde das Projekt durch eine Arbeitsgruppe begleitet, die sich aus der HL und dem SL sowie Vertreter:innen aller Fraktionen der Bürgerschaft zusammensetzte. Die Arbeitsgruppe hat insgesamt fünfmal getagt.
Folgende Ziele wurden im Prozess formuliert:
- Der Marktanteil des ÖPNV soll steigen, auch wenn dadurch das Defizit beim Stadtverkehr anwächst.
- Hierzu sollen die Preise sinken ohne eine besondere Präferenz für eine bestimmte Zielgruppe vorzunehmen.
- Das Verkehrsangebot soll ausgebaut werden, je nachdem womit ein höherer Wirkungsgrad (Effizienz) erzielt werden kann.
Soweit einzelne Beschlüsse Mehrkosten beim Stadtverkehr verursachen, können diese nicht durch im Querverbund der Stadtwerkeholding ausgeglichen werden. Ein Ausgleich dieser Kosten muss daher über den städtischen Haushalt jährlich erfolgen.
Zunächst ist die Frage zu klären, in welchem Verbundsystem die Steigerung des ÖPNV-Anteils nachhaltig gelingen wird. Das Gutachten beleuchtet hierzu den HVV und den SH Tarif. Im Ergebnis ist zwar festzuhalten, dass einige formulierte Ziele (insbesondere im Binnentarif) erreicht werden, wenn die Hansestadt sich für die Änderung des SH Tarifs einsetzt. Dennoch wird sich die Verwaltung entsprechend der Beschlusslage für den Beitritt zum HVV einsetzen, da hier zum einen bereits jetzt passsende Tarifstrukturen bestehen und zum anderen Ziele der Tarifanpassung und der Stärkung des ÖPNV mit Zielen der Stadtentwicklung korrespondieren:
Die Mobilität und Flexibilität der Bevölkerung steigt. Damit geht ein gestiegenes Bedürfnis nach integrierten Verkehrsangeboten einher. Unstrittig ist die hohe Bedeutung des öffentlichen Verkehrs und der Vernetzung mit der Metropolregion Hamburg für den Wohn- und Wirtschaftsstandort Lübeck. Der HVV-Tarif kann auf der bereits starken Bahnachse HH-HL im Sinne einer Verkehrswende noch mehr Menschen vom Auto in die Bahn bringen.
Ziel einer Integration der HL in den HVV ist es, die Attraktivität Lübecks als Wohn- und Wirtschaftsstandort weiter zu stärken und die Vernetzung mit der Metropolregion Hamburg weiter zu intensivieren. Der absehbaren demographischen Entwicklung soll entgegengesteuert und die Bevölkerungszahlen auch langfristig stabilisiert werden.
Insbesondere für den neuen Bahnhaltepunkt und die neue Mitte Moisling kann der Beitritt zum HVV zusätzliche Entwicklungsimpulse erbringen – und damit für den ganzen Stadtteil.
Im Vergleich zum SH-Tarif hält der HVV-Tarif ein ausgeprägt zielgruppenspezifisches Sortimentsangebot vor. Für alle relevanten Zielgruppen kann der Kunde je nach Nutzungsintensität, zeitlichen und räumlichen Mobilitätsbedürfnissen zwischen mehreren Tarifangeboten wählen. So gibt es z.B. spezielle Tarifprodukte für Senior:innen, Berufspendler:innen und Jugendliche. Auch für das Segment »Freizeitverkehr« werden verschiedene Tageskarten, Gruppenkarten sowie Monatskarten und Abonnements mit tageszeitlich eingeschränkter Gültigkeit angeboten.
Die günstigen Preise im HVV bieten wirksame Anreize, häufiger oder gar regelmäßig die Bahn auf der Relation Hamburg-Lübeck zu nutzen.
Auch für den Freizeitverkehr ergäbe sich durch attraktive Tageskarten und familienfreundliche Mitnahmeregelungen eine Nachfragestimulierung. Die hohen Rabatte bei den 9-Uhr Tages- und Monatskarten würden außerhalb der Hauptverkehrszeit zu einer deutlichen Nachfragesteigerung führen.
Durch die günstigen Preise im Bartarif könnten auch auf den Stadt-Umland-Beziehungen Potenziale im Freizeitverkehr erschlossen werden, wenn auch aufgrund der Einwohnerzahlen in wesentlich geringerem Umfang als auf der Hauptachse Hamburg-Lübeck.
Neben dem Tarif sind das Erscheinungsbild und der Markenauftritt des HVV imagefördernde Faktoren für den ÖPNV, die sich positiv auf die Nachfrage und die Einnahmen auswirken können. Der HVV zählt in diesem Zusammenhang unbestritten zu den stärksten Marken unter den deutschen Verkehrsverbünden. Der Name HVV wird von vielen Kunden als Synonym für den ÖPNV verwendet, obwohl er selbst keine Verkehrsleistung erbringt. Die Firmennamen der Verkehrsunternehmen spielen – zumindest im Vergleich zu anderen Ballungsräumen und Metropolregionen – eine untergeordnete Rolle.
Durch die starke Marke »HVV« und das aktive Vertriebsmanagement sind weitere Fahrgaststeigerungen zu erwarten, die aus der Erfahrung mit anderen Verbundausweitungen noch einmal in der gleichen Größenordnung liegen dürften wie die tarifinduzierten Nachfragesteigerungen.
Die Verwaltung wird die zur Einführung des HVV-Tarifes notwendigen Schritte durchführen:
- Bevor im HVV Aktivitäten hinsichtlich einer Aufnahme der HL in den HVV aufgenommen werden, müssten die Landesregierungen als Gesellschafter im HVV einen entsprechenden Beschluss im Aufsichtsrat fassen und den HVV beauftragen, tätig zu werden.
- Der HVV bzw. seine Gesellschafter müssten einer Mitgliedschaft der HL in der Gesellschafterversammlung zustimmen.
- Bezüglich einer Aufnahme in den HVV-Tarif wäre ein Beschluss im Aufsichtsrat des HVV erforderlich.
- Zu klären wäre noch, ob eine Mitgliedschaft in beiden Verbünden gewollt und möglich ist. Hierzu sind alle Bedingungen und Auswirkungen zu klären und abzuwägen. Priorität hat im Zweifelsfall der alleinige Beitritt zum HVV. Gegebenenfalls wäre eine Kündigung der bestehenden vertraglichen Vereinbarungen in der NAH.SH sowie in der NSH erforderlich.
Zudem sind für den Eintritt in den HVV folgende Punkte zu lösen:
- Bewertung der Durchtarifierung und Übernahmeverluste, hierunter fällt z.B. auch die Kostenübernahme für den Bereich des SPNV in Hamburg sowie SH.
- Verhandlung mit den Verkehrsunternehmen über Mindererlöse und deren Ausgleich.
- Technische und formelle Umsetzung.
- Lösung des Tarif und Vertriebssystems Ostholstein (der HVV gilt dann auf den Gebiet der Hansestadt Lübeck jedoch nicht im Bereich Ostholstein bzw. Nordwestmecklenburg).
Zudem ist die Einführung des HVV-Tarifs mit zusätzlichen Kosten verbunden. Hierunter fallen Einführungskosten von 2 Mio. Euro, lfd. Regiekosten in Höhe von 1 Mio. Euro. Das größte Defizit von 3 bis 4 Mio. Euro für den SPNV ist durch das Land Schleswig-Holstein auszugleichen. Sofern Mehrkosten für die Stadt entstehen müssen diese durch den städtischen Haushalt ausgeglichen werden und stehen nicht in der Stadtwerkeholding zur Verfügung.
Da die Vorteile des HVV insbesondere auf der schienengebundenen Anbindung Richtung Hamburg bestehen, während im Binnenverkehr (also innerhalb Lübecks) die Vorteile des SH-Tarifs überwiegen, soll im Rahmen des Beitrittsprozesses die Option eines HVV-lights vertiefend geprüft werden. Aus Sicht der Verwaltung werden die Nachteile des Ticketwechsels durch die Vorteile der Preisminderung deutlich kompensiert. Die beim HVV-Light entstehenden zusätzlichen Kosten entstehen ausschließlich im SPNV und sind damit Aufgabe der Länder. Die Freie und Hansestadt Hamburg sowie das Land Schleswig-Holstein müssen dann bereit sein die Mehrkosten von 3 bis 4 Mio. Euro pro Jahr zu tragen. Die HL hat damit keine unmittelbare Einflussmöglichkeit auf einen Beitritt hinzuwirken.
Eine Einführung des HVV-Tarifs wird auf Grund der genannten Schritte erst mittel- bis langfristig umsetzbar sein. Daher wird sich die Verwaltung parallel dazu dafür einsetzen, festgestellte Lücken im SH-Tarif zu schließen, um so kurzfristig die Nachteile im Tarifsortiment zum HVV-Tarif zu bereinigen. Konkret wurden hierbei folgende Segmente analysiert und empfohlen:
- Pauschalierung von Kindertickets (1,10 Euro unabhängig von der Preisstufe).
- Einführung einer 9-Uhr-Tageskarte zum Preis von 4,90 Euro.
- Pauschalierung der Kleingruppenkarte (9,60 Euro unabhängig von der Preisstufe).
- Einführung einer 9-Uhr-Monatskarte (35% Rabatt auf Standard-Zeitkarten).
- Großzügigere Mitnahmeregelungen für Monatskarten und Abonnements (ein Erwachsener kostenlos, Ausweitung auf Montag bis Freitag ab 19:00 Uhr).
Zur Umsetzung dieser Maßnahmen ist ein Beschluss der Tarifkommission von nah.sh/ nsh notwendig (s. Kapitel 1.3. des Gutachtens).
Würden alle fünf Sortimentsmaßnahmen umgesetzt, könnte die Nachfrage um 0,9 Mio. Fahrten pro Jahr (+3,7%) gesteigert werden. Die Mindereinnahmen beliefen sich auf 0,4 Mio. Euro pro Jahr (-1,5%) nach Einschätzung des Gutachters. Bei den Einschätzungen sind keine Corona-bedingten Auswirkungen berücksichtigt. Diese können sich sowohl auf die Fahrten pro Jahr als auch auf die Mindereinnahmen negativ auswirken. Die Mindereinnahmen sind durch den städtischen Haushalt dauerhaft auszugleichen. Der Ausgleich wird dann notwendig, wenn die Maßnahmen eingeführt worden sind und die Auswirkung auf die Nachfrage ermittelt werden konnte.
Vom Beschluss der Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck an muss mit einer Vorlaufzeit von mindestens einem Jahr gerechnet werden, bis erste Maßnahmen umgesetzt werden können. Da der Tarifwechsel im SH-Tarif immer am ersten August vollzogen wird, kommt als frühester Einführungstermin der 01.08.2022 in Frage Die NAH.SH plant die Erstellung eines Tarifentwicklungsplans, in den sich die HL proaktiv mit den Ergebnissen dieses Gutachtens einbringen kann.
Zudem wird empfohlen eine Neuordnung der Tarifzonenstruktur vorzunehmen. Die bevorzugte Variante ist das Modell B (Kapitel 5.3.2). Dieses belässt die Zoneneinteilung sowie die Preisstufen 1 und 2 – allerdings fällt die Preisstufe 3 weg. Bei Fahrten innerhalb dieser betroffenen Relationen gilt zukünftig ebenfalls die Preisstufe 2. Dies wird aus Sicht der Verwaltung am ehesten dem Ziel gerecht, mehr Fahrgäste zu gewinnen (+ 0,8 Mio.) und darüber hinaus für sämtliche peripher gelegenen Stadtteile ein gerechteres Preissystem zu erlangen, in denen mehr Menschen auf den ÖPNV angewiesen sind und bisher teurere Fahrpreise entrichten mussten.
Die Neuordnung der Tarifzone kann ohne Zustimmung der nah.sh bzw. der nsh erfolgen. Durch die Fahrpreisreduzierung ist dem SL ein Verlust von 2.400.000 Euro pro Jahr auszugleichen. Dieses Geld steht nicht in der Stadtwerkeholding zur Verfügung und muss durch den städtischen Haushalt ausgeglichen werden.
Das vorliegende Tarifgutachten stellt in erster Linie mittel- bis langfristige Maßnahmen dar, um die Ziele zu erreichen. Die Abschaffung der Tarifzone 3 wäre hingegen relativ schnell zu erreichen, sodass seitens der Verwaltung bei entsprechendem Beschluss wie folgt vorgegangen wird:
1. Abschaffung Preisstufe 3 als kurzfristige Maßnahme
2. Anpassung des SH-Tarifs als kurz- bis mittelfristige Maßnahme
3. Beitritt HVV als mittel- bis langfristige Maßnahme
Für die zukunftsweisende Neuausrichtung von Tarifen für Busse und Bahnen sollten verfügbare digitale Möglichkeiten unbedingt einbezogen werden. Daher empfiehlt der Gutachter neben den Maßnahmen im Tarif-Segment einen eTarif parallel zum konventionellen Tarif einzuführen bzw. die Einführung weiter voranzubringen. Die technische Voraussetzung zur Anwendung eines eTarifs ist ein Smartphone-basiertes Check-in / Check-out oder Check-in / Be-out-System. Der Ticketerwerb erfolgt über eine App und ist maximal einfach. Zum Beispiel checkt der Fahrgast an seiner Starthaltestelle ein und an der Zielhaltestelle wieder aus. Der Fahrpreis wird automatisch im Hintergrund berechnet und bargeldlos eingezogen.
Ein eTarif stellt ein zusätzliches Angebot dar, das die Fahrgäste aus verschiedenen Gründen (Einfachheit, Gerechtigkeit, Preisgünstigkeit, Bonus) wählen lässt. Mit einem eTarif auf der Basis eines Check-in- / Check-out-Systems lassen sich viele, auch von der Bürgerschaft der HL eingebrachten, Probleme und Schwachstellen der heutigen Tarife lösen und bietet große Chancen, Neukund:innen für den ÖPNV zu gewinnen.
Hierzu ist in einem ersten Schritt ein Feinkonzept zu erstellen, in dem alle Gestaltungsparameter ausführlich diskutiert, die präferierten Ausprägungen festgelegt und kalkuliert werden. Ebenso sind alle Fragen der vertrieblichen Umsetzung, Organisation und Finanzierung eines Pilottests zu klären. Für die Erstellung eines Feingutachtens sind ca. 300.000 Euro notwendig. Diese Mittel werden durch die Hansestadt Lübeck zur Verfügung zu stellen. Haushaltsmittel stehen im Produkt 547001 – Aufgabenträger ÖPNV zur Verfügung.
Die Ergebnisse des Feinkonzeptes sind dann durch Beschluss der Bürgerschaft zu bestätigen.
Hinweis zu den finanziellen Auswirkungen (Anlage 1):
Für das Feingutachten (Beschlusspunkt d) werden Kosten von 300.000 Euro benötigt. Diese stehen im Produkt 547001 zur Verfügung.
Bei einer Umsetzung der Maßnahmen (Beschlusspunkt b und c) ist von einem zusätzlichen Verlustausgleich in Höhe von 2.800.000 Euro pro Jahr auszugehen. Die finanziellen Mittel werden im Produkt 547001 ÖPNV im Zuge der Haushaltsplanung 2022 geordnet.