Spätestens seit Beginn des russischen Angriffskrieges im vergangenen Jahr ist die Ukraine stärker denn je in den weltweiten Fokus gerückt. Die Lübecker Völkerkundesammlung, die über zahlreiche Exponate aus Osteuropa, der Ukraine und Russland verfügt, hat sich trotz oder gerade wegen der augenblicklichen Lage dazu entschlossen, Lübecks Ostbeziehungen in den Blick zu nehmen: Die Ausstellung „In Krieg und Frieden. Von Kiew nach Lübeck“ soll von Samstag, 1. Juli, bis Sonntag, 8. Oktober 2023, in den Räumen des St. Annen-Museums aufzeigen, wie sehr die Geschichte der Hansestadt mit der des Ostens verwoben ist und wie sehr diese Lübecks Kultur damals wie heute ungeachtet politischer Gegebenheiten bereichert hat. Es wird ein zeitlicher Bogen vom Handel im Mittelalter bis hin zu den Erfahrungen ukrainischer Geflüchteter im heutigen Lübeck geschlagen. Bestandteil der Schau sind daher auch die Lebenswege und Erfahrungen einiger nach Lübeck geflüchteter Ukrainer:innen, die zudem im Begleitprogramm unter anderem Führungen anbieten und ein ukrainisches Fest organisieren werden.
In der Ausstellung zu sehen sind rund 150 zum Teil noch nie ausgestellte Exponate aus der Zeit zwischen dem 17. Jahrhundert bis heute, mehrheitlich aus dem Bestand der Völkerkundesammlung. Ergänzt wird die Ausstellung durch Leihgaben aus dem St. Annen Museum, dem Buddenbrookhaus, dem Haus der Kulturen, der Stadtbibliothek, dem Archiv der Hansestadt Lübeck sowie von Ukrainer:innen aus Lübeck und Umgebung. Begleitend zu der Sonderausstellung werden auch Exponate der Dauerausstellung des St. Annen-Museums mit neuen Beschriftungen versehen, um sie als Zeugnisse von Lübecks Ostbeziehungen neu zu erschließen.
Auch wenn die Ausstellung aufgrund des aktuellen öffentlichen Interesses mit dementsprechenden Objekten den Fokus auf die Ukraine legt, kann weder deren noch Lübecks Geschichte ohne die Entwicklungen im Zarenreich und der Sowjetunion begriffen werden. Exemplarisch werden in der Ausstellung u.a. die Nowgorod-Fahrer der Hansezeit, Lübecks Rolle als Ausgangspunkt der Auswanderung der Wolgadeutschen zur Zeit Katharinas der Großen oder auch das Schicksal osteuropäischer Zwangsarbeiter:innen in Lübeck während des Zweiten Weltkriegs erwähnt. Dass auch die Ukraine Lübecks Kultur prägte, ist weniger bekannt. So mag es überraschen, dass das heute als deutsche Tradition betrachtete Verzieren von Ostereiern vor tausend Jahren in Kiew erfunden wurde.
Demensprechend ist die Replik eines Kiewer Ostereis aus dem 10. Jahrhundert in der Ausstellung zu finden. Weitere Highlights stellen goldene orthodoxe Ikonen und eine Rechenmaschine für russisches Geld aus Lübecks ältester erhaltener Museumssammlung des Pastors Jacob von Melle (1659-1743) dar, auch wenn deren Herkunft ohne genaue Ortsangabe lediglich dem Zarenreich zugeschrieben werden kann und daher seinerzeit als „russisch“ katalogisiert wurde. Dank einer Förderung durch die Ernst von Siemens-Kunststiftung konnte die ukrainische Wissenschaftlerin Margarita Mudritska für die Erforschung und Zuordnung dieser Exponate gewonnen werden. Als Textilexpertin und Kennerin jüdischer Glaubenswelten half sie auch bei der Kategorisierung jüdischer Objekte aus der Ukraine aus der Sammlung von Julius Carlebach, die ebenfalls in der Ausstellung zu sehen sind: Die Holzschnitzereien aus den 1920er Jahren können nicht nur als Zeugnis für das harte Leben in den ukrainischen Karpaten, sondern auch für die Blüte des jüdischen Lebens in Osteuropa und gewissermaßen als Mahnmal für die Vernichtung dieser Vielfalt im Holocaust gelten.
Eine Leihgabe aus dem Buddenbrookhaus, eine vermutlich in den 1870er Jahren in St. Petersburg gefertigte Tabakdose aus dem Besitz der Familie Mann, ist ein Symbol für die engen Handelsbeziehungen, die betuchte Lübecker Kaufmannsfamilien im 19. Jahrhundert mit Russland pflegten. Diese Art von Dosen wurden in der damaligen Zeit in Massenproduktion hergestellt. Thomas Mann erwähnte die Tabakdose sowohl in den „Buddenbrooks“ als auch in seinem Roman „Der Zauberberg“.
Nicht fehlen dürfen Kosakenpuppen, die an die Kosaken als Gründer des ersten ukrainischen Staates der Neuzeit erinnern sollten, und die als Wyschywanka und mittlerweile als Symbol für die ukrainische Nation bekanntgewordenen bestickten Hemden. Betroffen machen dagegen die persönlichen Gegenstände, die von 2022 nach Lübeck flüchtenden Ukrainer:innen mitgebracht wurden, darunter zum Beispiel das Tauftuch eines Kindes, das von der Mutter nicht nur als Andenken, sondern auch als eine Art Amulett für himmlischen Schutz auf der gefahrvollen Flucht in die Hansestadt mitgenommen wurde. Aktuelle ukrainische Bildwerke in der Ausstellung schließlich zeigen, wie das Kriegsgeschehen mit Russland gewertet wird und überraschen mit durchaus humorvollen Zügen.
„Wir haben uns bemüht, trotz der aktuellen politischen Situation eine Ausstellung zu realisieren, die Lübecks enge Beziehungen nach Osteuropa aufzeigt, auch die historische Verbindung nach Russland und vor allem in die Ukraine“, erklärt der Leitende Direktor der LÜBECKER MUSEEN Dr. Tilmann von Stockhausen. „In den Punkten, in denen uns eine politische Neutralität aufgrund unserer Solidarität mit den ukrainischen Opfern des russischen Angriffskrieges nicht möglich ist, wollen und müssen wir eine ukrainische Perspektive einnehmen, ohne jedoch die Bedeutung der Beziehungen Lübecks zu Russland zu negieren.“
Die Ausstellung entstand in Kooperation mit ukrainischen Partner:innen, dem Forum für Migrantinnen und Migranten der Hansestadt Lübeck und dem Haus der Kulturen und wurde finanziell von der Sparkassenstiftung zu Lübeck gefördert. Sie ist in deutscher, ukrainischer und englischer Sprache gehalten.
Vernissage
Die Ausstellung „In Krieg und Frieden. Von Kiew nach Lübeck“ wird am Freitag, 30. Juni, um 17.30 Uhr im St. Annen-Museum eröffnet. Nach einer Begrüßung durch Lübecks Kultursenatorin Monika Frank wird mit einem Podiumsgespräch, moderiert durch den Leitenden Direktor der LÜBECKER MUSEEN Dr. Tilmann von Stockhausen, in die Ausstellung eingeführt. An dem Gespräch nehmen Dr. Lars Frühsorge, Leiter der Lübecker Völkerkundesammlung, die ukrainische Wissenschaftlerin Margarita Mudritska sowie Maria Reznikova vom Forum für Migrantinnen und Migranten der Hansestadt Lübeck teil. Für die musikalische Untermalung sorgt die ukrainische Bandura-Spielerin Margareta Storonianska.
Die Teilnahme beträgt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro, für Kinder 2,50 Euro. Tickets sind online unter https://vks.die-luebecker-museen.de/veranstaltung-buchen?vid=8808 sowie an der Museumskasse erhältlich.
Begleitprogramm
Begleitend zur Ausstellung ist ein vielfältiges Programm geplant. Dabei soll es unter anderem Führungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten in Deutsch, Russisch und Ukrainisch, einen Kurs zur kyrillischen Kalligraphie und verschiedene Veranstaltungen der ukrainischen Community wie ein ukrainisches Fest mit Essen und Musik geben. Die genauen Daten und Programmpunkte sind unter https://vks.die-luebecker-museen.de/in-krieg-und-frieden zu finden.
Weitere Informationen unter https://vks.die-luebecker-museen.de/ +++
Quelle: Die Lübecker Museen