Die Straßenverkehrsbehörden können nach § 45 Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) bestimmte Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung beschränken oder verbieten oder den Verkehr umleiten.
Das gleiche Recht haben sie nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO
zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen (Versuchsklausel der StVO).
Verkehrsversuche dürfen nur dann angeordnet werden, wenn eine konkrete Gefahr vorliegt und nicht sicher ist, welche Maßnahmen nach der StVO geeignet sind, um diese konkrete Gefahr zu beseitigen. Eine konkrete Gefahr für die Sicherheit und Ordnung ist immer dann gegeben, wenn ein Zustand eintritt, der bei weiterem ungehinderten Ablauf objektiv mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung eines oder mehrerer Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führt. Objektive Gefahren sind solche, die z. B. durch Verkehrserhebungen, Unfalldaten, Immissionsmessungen etc. nachprüfbar sind. Subjektive Einschätzungen, Gefahrenvermutungen erfüllen diese Voraussetzung nicht. Ebenso müssen Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit betroffen sein. Die maßgebenden Schutzgüter sind Leib, Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Eigentum, sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und ihre staatlichen Einrichtungen. Das Schutzgut „Gesundheit“ kann bspw. auch durch Umweltkriterien, wie z. B. eine unzumutbar hohe Abgas- oder Lärmbelastung für die Anwohnenden, betroffen sein.
Damit handelt es sich um eine „Experimentierklausel“ in einem eng vorgegebenen Rahmen, aber kein Experimentieren um des Experimentierens willens. Es dürfen keine Zweifel darüber vorliegen, ob eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegt, sondern lediglich darüber welche Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahrenlage erforderlich und geeignet sind.
Ein rechtmäßiger Verkehrsversuch setzt daher ein systematisches Vorgehen der Straßenverkehrsbehörde voraus und erfordert eine sorgfältige Bestandsaufnahme sowie eine Bewertung derjenigen Umstände, die korrekturbedürftig sind und das Aufzeigen derjenigen verkehrsregelnden Maßnahmen, die geeignet und erforderlich sein können, um die Gefahrensituation auf Dauer zu beseitigen. Bei einem Verkehrsversuch dürfen nur Mittel zur Anwendung kommen, die nach der StVO rechtmäßig angeordnet werden können; keine Fantasiemaßnahmen, die später nicht angeordnet werden können.
Ziel ist ein Erkenntnisgewinn über die Wirksamkeit der eingesetzten verkehrssichernden oder verkehrsregelnden Maßnahmen. Das setzt eine regelkonforme Anwendung der Maßnahmen nach der StVO unter Einhaltung aller Sicherheitsaspekte voraus.
Der Verkehrsversuch ist eine Maßnahme zur Gefahrenabwehr und damit eine hoheitliche Aufgabe (Aufgabe zur Erfüllung nach Weisung). Hier sind enge Vorgaben in der Ausgestaltung des Versuchs zu beachten. Die im Versuch vorgenommenen Verkehrsänderungen können, müssen aber nach Abschluss des Versuchs nicht zwingend in eine dauerhafte Anordnung überführt werden.
Im Gegenzug hat die reguläre Verkehrsplanung als Selbstverwaltungsaufgabe keinen Erkenntnisgewinn als Ziel. Die Maßnahmen und Ziele orientieren sich nicht zwingend an einer konkreten Gefahrenlage; sie genießen daher einen größeren Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung von Verkehrsräumen. Über die Bauleitplanung und Flächennutzungsplanung kann die Gemeinde Bereiche und Verkehrsräume definieren, die eine Verkehrsberuhigung (Tempo 30 Zonen) erfahren sollen, z. B. wie beim Konzept zur verkehrsberuhigten Altstadt, konzeptionelle Umgestaltung von Stadtteilen, der Freiraumplanung (Grünanlagen etc.), Nutzung von Plätzen (Koberg, Klingenberg), Bau von Parkhäuser für Fahrräder, Bau von neuen Verkehrswegen wie z. B. der neuen Stadtgrabenbrücke usw. Bei der Verkehrsplanung sind die Grenzen zwischen Hoheitsrecht und Selbstverwaltungsrecht fließend. Das „freie Gestaltungsrecht“ der Gemeinde im Rahmen der Selbstverwaltung wird in aller Regel durch die Vorschriften des Straßenverkehrsrechts begrenzt.
Die Kommunikation und die Einbindung von Beteiligten stellt ein wichtiges Element des Gestaltungsprozesses dar, um Anhaltspunkte zur Wirkung und Akzeptanz des geplanten Versuchs zu erlangen. Die Einbeziehung der Beteiligten erfolgt zumeist über Projektgruppen.
Da Verkehrsversuche auf der Grundlage des Gefahrenabwehrrechts, der Straßenverkehrsordnung (StVO) und dem Landesverwaltungsgesetz für Schleswig-Holstein (LVwG-SH) erfolgen, richtet sich die vorgeschriebene Beteiligung nach § 45 Abs. 1 StVO und I. Nr. 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 45 StVO. Hiernach sind zwingend der Straßenbaulastträger und die Polizei zu hören. Andere Akteur:innen können nach billigem Ermessen der Straßenverkehrsbehörde einbezogen werden. Je nach Art und Umfang eines Verkehrsversuchs ist es üblich, auch andere Betroffene, z. B. Feuerwehr, Stadtverkehr Lübeck, Anwohner:innen, Politik, Wirtschaft oder Interessensverbände (ADFC oder Behindertenverbände), zu beteiligen. Die Beteiligung der Politik erfolgt regelmäßig über die Gremien der Hansestadt Lübeck. Externe Beteiligte werden zumeist über Projektgruppen einbezogen. Andere externe Akteur:innen können z. B. über Informationsveranstaltungen, Workshops oder medial (z. B. Informationen über Internetseiten) einbezogen werden.
Soweit auch andere Akteur:innen als die nach der StVO vorgeschriebenen Beteiligten einbezogen werden, werden die vorgebrachten Argumente gehört und gewertet. Etwaige Anregungen, Bedenken, Widerstände stellen wichtige Indizien zur Akzeptanz des beabsichtigten Verkehrsversuchs dar und ermöglichen es, im Vorfeld Korrekturen vorzunehmen.
Als Teil eines rechtskonformen und systematischen Vorgehens bei der Durchführung eines Verkehrsversuchs ist die Dokumentation der im Versuch gewonnenen Erkenntnisse zwingend. In welchem Umfang diese Dokumentation erfolgt, ist auch von der Art und dem Umfang des Verkehrsversuchs abhängig. Für bedeutende Projekte und mit einer Vielzahl betroffener Akteur:innen empfiehlt sich eine umfassende Evaluierung. Viele Kommunen greifen hierbei auf externe Gutachter:innen (z. B. Hochschulen, Forschungsinstitute oder Verkehrsingenieurbüros) zurück. Eine Evaluierung soll dazu dienen, die wesentlichen Fragestellungen im Hinblick auf das Mobilitätsverhalten, die Verkehrsentwicklung/Verkehrsverlagerung, den Verkehrsfluss, Lärmschutz, Luftqualität und die Sicherheit zu beleuchten, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie z. B. Verkehrsräume zukünftig neu aufgeteilt werden können. Zu einer Evaluierung gehören auch die Auswertung und die Veröffentlichung des Evaluationsberichts am Ende des Verkehrsversuchs.
Im Falle des Verkehrsversuchs in der Fackenburger Allee können die untersuchten Themen und deren Ergebnisse dem Evaluationsbericht (VO/2024/13439) entnommen werden.
Ziel eines Verkehrsversuchs ist der Erkenntnisgewinn. Eine Umsetzung der erprobten Maßnahmen muss nicht zwingend erfolgen. Die Erkenntnisse aus dem Verkehrsversuch können aber auch auf andere Handlungsfelder/Verkehrssituationen übertragen werden. Aus Verkehrsversuchen lassen sich somit wichtige Erkenntnisse für die übergeordnete, strategische Planung, beispielsweise die Verkehrsentwicklungsplanung, ableiten. Ebenso können diese Erkenntnisse gewinnbringend in die Entscheidungsfindung der politischen Gremien einfließen.