Eine 2021 eingereichte Planungsanzeige der Entsorgungsbetriebe sieht den Ausbau der bisherigen Mischkanalisation und den Einbau einer Trennkanalisation in der Straße Große Kiesau vor. Die Maßnahme muss kurzfristig 2024 durchgeführt werden, da der Kanal in einem sehr schlechten Zustand ist (2021 mussten vier Reparaturen am Mischwasserkanal durchgeführt werden).
Aufgrund der engen Platzverhältnisse wird es erforderlich sein, die Oberflächen auf der gesamten Breite der Straße aufzunehmen und wiederherzustellen. Da es sich um eine Kanalbaumaßnahme der EBL handelt, würde die Straße grundsätzlich wieder so hergestellt wie vorgefunden, also mit beidseitigem Gehweg mit ca. 40cm Breite und Hochbord mit ca.10 cm Höhe zur gepflasterten Straße (siehe Bild Bestand, Anlage 4).
Die Anwohnenden sind mit dem Wunsch an die HL herangetreten, dass nach der Baumaßnahme eine barrierearme Oberfläche der Straße hergestellt wird. Dieser Wunsch entspricht § 8 Absatz 5 Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG), demgemäß u.a. öffentliche Wege barrierefrei zu gestalten sind. Deshalb hat der Fachbereich 5 Querschnitt-Varianten erstellt, die einen barrierearmen Ausbau gewährleisten.
Eine Querschnittsänderung der Straße Große Kiesau nach Erneuerung der Entwässerungsleitungen stellt eine investive Maßnahme der Stadt Lübeck dar, da die Entsorgungsbetriebe lediglich zur Wiederherstellung der Bestandssituation verpflichtet sind. Die HL trägt den Differenzbetrag zwischen Wiederherstellung und Herstellung nach Neuplanung.
Ansprüche an die Neukonzeption von Straßen in der Lübecker Altstadt sollen eine geschichtsbezogene und zugleich zeitlose Gestaltung, eine wertige Materialität, die Anpassung an die Anforderungen der aktuellen Nutzenden (Barrierearmut) und die Berücksichtigung der Auswirkungen klimatischer Veränderungen (Entwässerung bei Starkregenereignissen) sein.
Die Große Kiesau befindet sich innerhalb der UNESCO-Welterbestätte ‚Lübecker Altstadt‘. Sie ist geschlossen von historischer Bebauung gefasst. Der Managementplan der UNESCO-Welterbestätte hebt hervor: „Bei allen Planungen und Umsetzungen/ Bauvorhaben sind die Bedürfnisse der Anwohner, Gewerbetreibenden und Gäste unter besonderer Beachtung der Anforderungen des Welterbes ausgewogen abzustimmen und zu koordinieren (S. 77).“ Laut Managementplan wird „eine Qualitätsverbesserung im öffentlichen Raum angestrebt. Die Gestaltung, Aufenthaltsqualität und Barrierefreiheit […] soll verbessert werden (ebd.).“ Der Managementplan verweist zudem auf den Vorläufer des heutigen Rahmenplans Innenstadt (Lübeck plant und baut, Heft 35; Beschluss der Lübecker Bürgerschaft am 21. März 1991). Der Rahmenplan sieht „die Einteilung der Straßengestaltung in vier Kategorien vor, die sich an den historischen Gegebenheiten orientieren und eine gestalterische Aufteilung des Raumes mit beidseitigen Bürgersteigen und einer mittigen Fahrbahn in der typischen, historischen Dreiteilung des Straßenraumes beinhalten. […] Grundsätzlich soll dieser Intention weiter entsprochen werden. Um einen attraktiven und gleichzeitig funktionalen Straßenraum […] zu erreichen, sind die Vorgaben fallspezifisch zu überprüfen. Mit einer unterschiedlichen Pflasterung kann bei einer niveaugleichen Ausbildung wie in der Hüx- und Fleischhauerstraße flexibler auf Veränderungen und Ansprüchen der Nutzergruppen reagiert, ein barrierefreier, fußgänger- und fahrradfreundlicher Straßenbelag geschaffen und gleichzeitig die historisch dreigeteilte Straßenausbildung erreicht werden. Grundsätzlich gilt dies auch für die Wohnstraßen in der Altstadt (Managementplan der UNESCO-Welterbestätte S. 60).“
Anspruch an eine Straßenneukonzeption ist weiter eine Entwässerung, welche Bezug nimmt auf Starkregenereignisse. Beim vorliegend schmalen Querschnitt ist dies bei einem Querschnitt mit abgesenkten Hochborden die Entwässerung in der Mitte der Fahrbahn – V-Profil (Anlage 3). Unter bestmöglicher Abwägung der Belange wurde ein Querschnitt entwickelt, der in Zukunft auf ähnliche, schmale Straßenräume geprüft werden kann (Anlage 1):
- Dreiteilung des Stadtraums
- Bordstein: beidseitig der Fahrbahn, Granit, versenkt (niveaugleich) - weiche Separierung der Bereiche der Verkehrsteilnehmenden
- Läufer: beidseitig der Fahrbahn (historische Rinnenführung), einzeilig, Großsteinpflaster, Granit
- Fahrbereich: Großsteinpflaster, Granit, Reihenverband, ungeschnitten, eben und ungebunden verlegt
- Hausvorzone: beidseitig, Mosaikpflaster, Granit (oder Basalt/ Grauwacke o.ä.)
- V-Profil mit Mittelentwässerung
Mit dem o.g. Gestaltungskonzept wird ein bisher in der Lübecker Altstadt nicht vorhandebes Profil angewendet, um die Belange der Klimaanpassung und Barrierefreiheit in die Planungen zu integrieren. Die für die HL entstehenden Kosten stehen in einem angemessenen Verhältnis zu den Qualitäten, die durch das gewählte Konzept im Straßenraum Große Kiesau ermöglicht werden.
Folgend sind die Gestaltungsprinzipien sowie Abwägungskriterien zusammengestellt:
A. Profil
Nach Prüfung von Querschnittsvarianten auf Entwässerungsvolumina/ Retentionsvermögen durch 5.660 Stadtgrün und Verkehr wäre ein Querschnitt mit 10 cm hohen Bordsteinen und V-Profil (Entwässerung in der Mitte der Fahrbahn) optimal. So ergibt sich im Straßenraum ein maximaler Retentionsraum im Starkregenereignis. Die Entwässerung im V-Profil hat laut Entsorgungsbetrieben den weiteren Vorteil, dass weniger Leitungskreuzungen mit anderen Leitungsträgern nötig sein werden.
Um jedoch dem Belang der Barrierefreiheit gerecht zu werden, wird eine weiche Separierung angestrebt. Auch die Feuerweht befürwortet aus Gründen der Unfallvorsorge einen Straßenraum ohne Schwellen. Hierzu werden die Granitbordsteine bündig auf das Umgebungsniveau abgesenkt. In der Abwägung der Belange wird die Entwässerungsleistung dieser Variante als ausreichend angesehen.
Die Denkmalpflege weist darauf hin, dass die angedachte Ausführung des Straßenquerschnitts als V-Profil mit mittlerer Rinne für Lübeck historisch nicht belegbar und damit ortsuntypisch sei. Im Ergebnis entstünde ein neues Straßenbild ohne jedwede historische Referenz, weswegen diese Umsetzung aus denkmalpflegerischer kritisch gesehen wird. Es solle geprüft werden, ob bei einem D-Profil (Dachprofil) durch eine größere Anzahl an Abläufen in den seitlichen Rinnen die Abführung von Oberflächenwasser erhöht werden könne.
Aus entwässerungstechnischen Gründen ist bei einem Querschnitt mit abgesenkten Bordsteinen nur ein V-Profil mit vielen Straßeneinläufen möglich, da nur so Retentionsraum für das Niederschlagswasser zur Verfügung steht. Bei einem D-Profil kann es öfter zu einem Rückstau des Niederschlagswassers in die Bebauung kommen (siehe Anlage 3). Aus diesem Grund wurde die Variante V-Profil weiterverfolgt. Um die Abweichung vom historischen Querschnitt-Typus des Dachprofils nicht zusätzlich zu betonen, soll als Kompromiss die Entwässerung in gusseiserne Abläufe in der Mitte der Fahrbahn erfolgen, ohne dass eine mittige Rinne ausgebildet wird. Damit durch die Anordnung der Abläufe keine optische Linie entsteht, sollen nur so viele Abläufe wie notwendig in möglichst großen Abständen angeordnet werden. Die historische beidseitige Rinnenführung wird optisch durch Läufer aus Granitgroßsteinpflaster entlang der Bordsteine hervorgehoben.
B. Separierung
Eine Dreiteilung des Straßenraums ist die Erscheinungsform des historischen Querschnitts und entspricht den grundsätzlichen Nutzungszonen für die schnelle Fortbewegung in der Mitte und für den Langsamverkehr in den beiden seitlichen Bereichen. Geringfrequentierte Stadträume, deren Breite unter Berücksichtigung ihrer Nutzungsansprüche für eine Trennung in Bewegungszonen zu schmal sind, sollen nutzungsneutral ausgebaut werden können. Somit werden bisher nicht ausreichend dimensionierte Gehwege vermieden. Eine Dreiteilung wird optisch durch die verschiedenen Materialien der Bereiche und mittels durchgehender Bordsteine erreicht.
Die denkmalfachliche Einschätzung hierzu ist, dass bei der Absenkung des Bordsteins letztlich noch ein geringer Niveauversprung gewahrt bleiben, also keine komplette niveaugleiche Ausführung erfolgen solle. Dadurch bliebe zum einen die ehemals höhenwirksame Dreiteilung des Straßenraums ansatzweise gewahrt und nachvollziehbar, zum anderen möge dieses die Oberflächenentwässerung aufgrund der seichten Rinnenausbildung unterstützen.
Um keine Stolperkante entstehen zu lassen, ist entweder ein Absatz von 3 cm notwendig oder ein niveaugleicher Ausbau. Ein 3 cm Absatz würde in der Benutzbarkeit wiederum eine Fahrbahn und zu schmale „Gehwege“ schaffen. Deshalb wird ein niveaugleicher Ausbau des Stadtraums vorgeschlagen. Mittels durchgehenden abgesenkten Bordsteinen nebst einreihiger Läuferreihung beidseitig wird optisch die Dreiteilung erreicht.
C. Pflasterung
Es soll das vorhandene Granitgroßsteinpflaster wiederverwendet werden. Die von den Anwohnenden gewünschten barrierearmen Flächen könnten durch den Schnitt der Nutzfläche des vorhandenen Pflasters oder durch Einebnung der Pflasterflächen erreicht werden.
Eben und gleichmäßig verlegtes Natursteinpflaster ist barrierearm und in der Große Kiesau stellt eine eben gepflasterte Natursteindecke eine deutliche Verbesserung zum Status quo dar. Die Frequenz in der Straße ist als sehr niedrig zu beurteilen, es handelt sich um eine Straße mit Wohnnutzung. Pflaster zu schneiden erfordert hohen Arbeits-, Energie- und Kostenaufwand.
Die Denkmalpflege empfiehlt, dass geschnittenes Pflaster allgemein nur als Sonderlösung für stark frequentierte Verkehrsräume mit gehobenen Nutzungsansprüchen herangezogen werden solle - und hier bestenfalls nur in Teilbereichen (Laufzonen), da solche Beläge den durch originäres Großsteinpflaster erzeugten lebhaften Eindruck der Oberfläche immer stark monotonisieren. Eine flächendeckende Anwendung auf alle Straßenräume führe demgemäß zum Verlust eines für die Lübecker Altstadt charakteristischen Straßenbilds. Alternativ könne schon mit der Neusetzung vorhandener Pflastersteine eine recht ebene und damit barrierearme Oberfläche erzeugt werden (bspw. Fläche vor Schuppen 6, an der Drehbrücke). Auch solle das Pflaster in ungebundener Bauweise verlegt werden, da dies dem historischen Bestand entspräche und mehr Versickerungsfläche biete.
Eben und gleichmäßig verlegtes Natursteinpflaster ist barrierearm, wenn es die Anforderungen der DIN 18040-3:2014-12 – Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen, Teil 3: Öffentliche Verkehrs- und Freiraum erfüllt. Diese besagen u.a., dass Bewegungsflächen und nutzbare Gehwegbreiten für die barrierefreie Nutzung eben und erschütterungsarm berollbar sein müssen. Die hierfür erforderlichen Pflaster- und Plattenbeläge müssen nach DIN 18318 ausgeführt werden.
In Abwägung gestalterischer, denkmalpflegerischer, ökologischer und auch ökonomischer Aspekte wird eine Pflasterung mit ungeschnittenem Naturstein in ungebundener Bauweise empfohlen. Das Erscheinungsbild der Oberflächenstruktur des Steins und der Fugen lehnt sich an die Bestandspflasterung an und die Versickerungsfähigkeit der Flächen sowie Fugenbewuchs haben positive umweltrelevante Auswirkungen.
D. Hausvorzonen
In den sehr schmalen Straßen haben die Bereiche zwischen Bordstein und Gebäude keine Funktion als ebene Laufflächen und sind eher als Hausvor- und Abstandsflächen zu sehen, welche historisch teilweise. mit Katzenkopfpflaster befestigt waren.
Laut Denkmalpflege sollten die Hausvorzonen („Bürgersteige“) gestalterisch auf den Ort und seine historische Prägung abgestimmt sein, insbesondere, da die Große Kiesau noch geschlossen von historischer Bebauung gefasst sei. Es solle im Ergebnis kein Straßenraum geschaffen werden, der zu stark von dem für Lübeck prägenden bzw. nachweislichen Zustand abweiche. Asphaltbelag bestimme seit rund 180 Jahren das Lübecker Straßenbild in den Laufzonen der Bürgersteige (sukzessive Umgestaltung seit 1842). Eine solche Ausführung wäre folglich historisch korrekt und daher die denkmalfachlich klare Empfehlung. Insofern das im Einzelfall nach pflichtgemäßer, sachlicher Abwägung nicht umsetzbar erscheine, gelte es einen Belag zu wählen, der es vermöge, die durch Asphalt entstehende Flächigkeit zu suggerieren und die Farbigkeit aufzugreifen (evtl. Betonplattenbelag in regelmäßigen Format, vgl. obere Aegidienstraße zum Klingenberg hin oder Domkirchhof). Davon abweichende Ausführungen, bspw. mit durchgehendem Mosaikpflaster, erzeugten eventuell ein zu liebliches Gesamtbild.
Vorgeschlagen wird die Befestigung der Seitenbereiche in Mosaikpflaster mit 5 cm bis 7 cm Kantenlänge in dunkelgrauem Material (bspw. Basalt, Grauwacke) in ungebundener Bauweise und mit dunkelgrauem Fugenmaterial (Natursteinsplitt - siehe Anlage 4, Fotos 13 und 14). Diese Materialwahl schlösse sich wie von der Denkmalpflege gewünscht farblich und aufgrund der glatten Oberflächenbeschaffenheit an die bisher verwendeten Asphaltbeläge an. Zudem wird damit Bezug auf das historische, kleinteilige Katzenkopfpflaster genommen, welches vor dem Asphalt in den Hausvorzonen genutzt wurde, und es schließt zudem im Prinzip an das Mosaikpflaster an, welches bereits vielfach in bisher in Lübeck neugestalteten (breiteren) Straßen in den Hausvorzonen eingebaut ist (siehe Anlage 4, Foto 15, Einmündung Große Kiesau in die Engelsgrube).
Eine Fortführung des Hausvorzonenpflasters aus rötlichem Granit aus der Engelsgrube hätte den Vorteil, dass dieses Pflaster in der Oberfläche weniger rutschig als z.B. Basalt ist. Außerdem wird dieses Material in der Altstadt schon verwendet und auf den Bauhöfen vorgehalten.
Es wird im Ergebnis der Gesamtabwägung die Auffassung vertreten, dass es sich heute in den asphaltierten Bereichen größtenteils nicht mehr um den ursprünglichen Asphalt handelt und das Ursprungsbild der ebenen, gleichfarbigen Fläche nicht mehr vorhanden ist. Die Asphaltflächen sind durch zahlreiche Eingriffe stark verändert, sie sind nicht mehr eben, in der Farbe nicht mehr gleichmäßig und haben viele, unregelmäßige Fugen (Anlage 4, Fotos 3 bis 6, Bestand Große Kiesau). In den schmalen Seitenbereichen wäre auch kein maschineller Einbau des Asphalts möglich. Ein Handeinbau aber führt zu einem schlechten Endergebnis.
Eine Ausführung der Seitenbereiche mit Plattenbelägen ist historisch nicht ableitbar und zudem bautechnisch beim Einbau in schmale Seitenbereiche mit deren vielen Vorsprüngen und Einbauten vor den Fassaden einem Puzzle gleich sehr aufwändig und mit vielen Schnittkanten verbunden. Betonplatten mit Natursteinvorsätzen sind bei Nachkäufen meist nicht in gleicher Art erhältlich. So entsteht bei notwendigem Austausch ein Potpourri von unterschiedlichen Platten (Fotos 9 und 10, Aegidienstraße).
Naturstein dagegen hat eine wertige Erscheinung, ist werthaltig und bei Nachkäufen in nahezu gleichbleibender Qualität erhältlich. Zudem ist eine Naturstein-Pflasterung sehr flexibel im Einbau sowie im Fall von Eingriffen, da ein Wiedereinbau ohne Spuren erfolgen kann. Fugen zwischen den Pflastersteinen ermöglichen Versickerung von Wasser und Ansiedlung von Kleinstgrün, durchlässige Fugen verringern Spritzwasser und damit die Beeinträchtigung der Fassaden.
Da der Vorteil von Mosaiksteinen überwiegt, wird diese Ausführung empfohlen.