Zielsetzung: Dekolonisierung und Neupositionierung der ethnologischen Museen
In den letzten Jahren hat sich u.a. bedingt durch die Debatte um das Berliner Humboldt-Forum und koloniales Raubgut eine kontroverse Debatte um die Zukunft ethnologischer Museen in Deutschland entwickelt. Standen früher primär ästhetische Objektpräsentationen und die Vermittlung von Wissen über uns fremde Kultur durch deutsche Kurator:innen an ein deutsches Publikum im Zentrum, liegen heute weitere Schwerpunkte auf der Zusammenarbeit und dem Dialog mit den Herkunftsländern sowie der Aufklärung über den historischen Kontext, in dem diese Objekte gesammelt wurden.
Die LÜBECKER MUSEEN bekennen sich zu der Verantwortung, die Sammlungsbestände der Völkerkunde nach den ICOM-Richtlinien zu bewahren, zu vermitteln und zu erforschen. Zu den Sammlungen der Völkerkunde zählen Konvolute aus allen Weltkulturen und auch aus dem Bereich der europäischen Ethnologie. Die Hansestadt Lübeck folgt damit den Empfehlungen der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, den Kulturminister:innen der Länder sowie den kommunalen Spitzenverbänden, die sich im März 2019 in »Ersten Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten« auf Handlungsfelder und Ziele beim Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten verständigt und am 16. Oktober 2019 die Einrichtung der »Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland« auf den Weg gebracht haben.
In dem »Eckpunkte«-Dokument wird von den Einrichtungen, die Kulturgut aus kolonialem Kontext besitzen, insbesondere die Bereitschaft gefordert, die Aufarbeitung der Herkunftsgeschichte des Sammlungsguts aktiv zu betreiben. Unter Punkt 7 der Vereinbarung werden die »ethisch-moralische [...] Verpflichtung« und die »wichtige politische Aufgabe« betont, »Kulturgüter aus kolonialen Kontexten zu identifizieren, deren Aneignung in rechtlich und/oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte, und deren Rückführung zu ermöglichen«. Zudem seien »menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten [...] zurückzuführen« (s. Anlage 1).
Wichtige Voraussetzungen: Forschung, Kooperation und Transparenz
Die (Provenienz-) Forschung an den eigenen Sammlungen ist eine Kernaufgabe der Museen, die jedoch aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen fast ausschließlich über Drittmittel finanziert werden muss. Ein wichtiger Partner für die Erforschung der Provenienz von Objekten der LÜBECKER MUSEEN aus der Zeit des Kolonialismus und Nationalsozialismus ist daher das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK), das in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) bereits einige Forschungsprojekte der LÜBECKER MUSEEN gefördert hat. In der Völkerkundesammlung konnten 2020 und 2021 mit der Sammlung der Lübecker Pangwe-Expedition (1907-1909) sowie Objekten und sterblichen Überresten aus dem Umfeld des Völkermordes an den Herero und Nama (1904-1908) zwei als besonders belastet geltende Bestände umfassend erforscht werden. Ein weiteres von 2022 bis 2024 laufendes Forschungsprojekt widmet sich den sterblichen Überresten von ca. 25 Personen im Bestand der Völkerkundesammlung. Neben der Erforschung der Herkunft dieser Überreste und ihrer Wege nach Lübeck hat das Projekt auch eine Kontaktaufnahme mit Nachfahren und anderen Institutionen in den Herkunftsländern zum Ziel, um die dortigen Vorstellungen und Bedürfnisse hinsichtlich des zukünftigen Umgangs mit diesen Gebeinen zu ermitteln. Es ist davon auszugehen, dass für einzelne aus historischen Unrechtskontexten stammende Schädel in Kürze Rückgabeforderungen an die Hansestadt Lübeck gerichtet werden.
Grundlage für einen internationalen Austausch und für mehr Transparenz sind die Digitalisierung und Online-Stellung der Sammlungsbestände. Mit der digitalen Erfassung der kompletten historischen Sammlungsbestände der Völkerkundesammlung von 2012 bis 2016 und einer aktuellen intensiven Erforschung der bisher unbeachteten Lübecker Kolonialgeschichte verfügt die Völkerkundesammlung über eine sehr gute Basis, um die neuen an sie gestellten Herausforderungen zu bewältigen. Gleichwohl wird eine umfassende Erforschung dieser Bestände noch viele Jahre in Anspruch nehmen.
Grundvoraussetzung für einen Dialog auf Augenhöhe mit den Herkunftsgemeinschaften ist Transparenz. Neben den bestehenden Inventardatenbanken sollen schrittweise alle vorhandenen Informationen und Bilddaten der Objekte in einem Online-Katalog der Lübecker Museen den Menschen in den Herkunftsländern zukünftig den Zugang ermöglichen, wobei Daten einschließlich der Abbildungen nach der Creative Common Licence zur Verfügung gestellt werden.
Auch die digitale Erfassung der Völkerkunde-Bestände wurde bislang über Drittmittel finanziert. Gleichwohl die LÜBECKER MUSEEN mit dem Ausbau ihrer Digitalen Stabstelle bereits wichtige Voraussetzungen für ihre digitale Transformation geschaffen haben, wird die Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen auch zukünftig von Drittmitteln abhängig sein.
Rechtliche Situation
Da die nationalen Regelungen des Kulturgutschutzgesetzes nicht auf Kulturgüter anwendbar sind, die während der Kolonialzeit verbracht worden sind, gibt es keine spezifischen Anspruchsgrundlagen im nationalen Recht oder im Völkerrecht, die einen Herausgabeanspruch der Nachfahren aus ehemaligen kolonialen Gebieten gegen die jetzigen Kulturgutbesitzer in Deutschland begründen.
Eventuelle Eigentumsübertragungen oder physische Rückführungen von Objekten erfolgen somit auf der in den »Eckpunkten« geforderten ethisch-moralischen Selbstverpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen. Um ihre Aufgaben im Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten erfüllen zu können, sind Museen darauf angewiesen, dass Gesellschaft und Politik ihr Handeln einvernehmlich an den politisch vereinbarten moralischen Prinzipien ausrichten. Diese Entscheidungen begründen zugleich den Ruf und das wissenschaftliche Ansehen der Museen im nationalen und internationalen Kontext.
Unabhängig von der rechtlichen Bewertung eines Herausgabeanspruches ist auch das Herausgaberecht der Museen zu betrachten: Gemäß Hauptsatzung der Hansestadt Lübeck entscheidet der Bürgermeister über die »unentgeltliche Veräußerung von Sachen, Forderungen und anderen Rechten bei einem Wert bis zu 25.000 Euro«. Bei Objekten, die diesen Wert übersteigen, entscheidet die Bürgerschaft.
Bei Objekten, deren Eingang in die Sammlung mit Schenkungs- oder sonstigen Überlassungsverträgen geregelt wurde, sind zudem die Vertragsbedingungen zu prüfen und ggf. die Vertragspartner über die Forschungsergebnisse und das geplante Vorgehen gem. den »Eckpunkte«-Forderungen zu informieren beziehungsweise um Genehmigung einer möglichen Rückgabe zu ersuchen.
Vereinbarung mit der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit
Einen solchen Veräußerungsvertrag hat die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit 1934 mit der »Stadtgemeinde Lübeck« geschlossen. Da sich die Bedingungen und Zielsetzungen des musealen Sammelns, insbesondere in Bezug auf die Frage der Provenienz von Objekten seit 1934 gewandelt haben und die Restitutionsfrage in dem Vertrag folglich noch nicht berücksichtigt wurde, soll mit der Gemeinnützigen eine ergänzende schriftliche Vereinbarung geschlossen werden, die eine Beteiligung der Gesellschaft im Entscheidungsverfahren bei Restitutionen regelt, ohne die Hoheit der Bürgerschaft über die Forschungs- und Sammlungspraxis der LÜBECKER MUSEEN einzuschränken (Anlage 3).
Das mit der Gemeinnützigen abgestimmte Verfahren sieht vor, dass die Gemeinnützige bei Restitutionsvorhaben von Objekten aus kolonialen Kontexten, die Gegenstand des Vertrags von 1934 sind, beteiligt wird und eine Stellungnahme abgibt. Sofern das Verfahren einen Beschluss durch die Bürgerschaft vorsieht, wird die Stellungnahme der Gemeinnützigen der Beschlussvorlage zur Entscheidung durch die Bürgerschaft beigefügt. In Zweifelsfällen wird die Gemeinnützige ihre Rückfragen an die LÜBECKER MUSEEN richten. Sollten nicht alle Fragen geklärt werden können und sollte Dissens über das Forschungsergebnis bestehen, bestimmen die LÜBECKER MUSEEN und die Gemeinnützige einvernehmlich zwei Gutachter:innen, die hauptamtlich in ethnologischen Sammlungen oder Forschungsinstituten tätig sind und die das Ergebnis der Provenienzforschung der LÜBECKER MUSEEN überprüfen. Sofern das Verfahren eine Beschlussfassung durch die Bürgerschaft vorsieht (s. Beschlussvorschlag sowie Anlage 2: Flussdiagramm), werden auch die Expertisen der Beschlussvorlage angehängt.
Der Entwurf der Zusatzvereinbarung ist mit der Gemeinnützigen abgestimmt.
Finanzielle Aspekte
Die Objekte der Völkerkundesammlung sind überwiegend als Schenkungen in die Sammlung gelangt. Den Vermögenswerten der Objekte stehen somit Sonderposten bzw. Sonderrücklagen in gleicher Höhe gegenüber. Rückgaben würden daher eine Reduzierung auf beiden Bilanzseiten zur Folge haben und im Endeffekt haushalttechnisch ergebnisneutral umgesetzt werden. Der Haushalt der Hansestadt Lübeck würde durch Rückgaben folglich nicht belastet.
Die finanziellen Auswirkungen einer Rückgabe werden im Einzelfall in der hierzu einzubringenden Beschlussvorlage konkret geklärt und dargestellt.