1. Der vom Büro der Bürgerschaft erarbeitete Entwurf der „Anlage zur Geschäftsordnung für die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck“ ist unvollständig.
Es fehlt eine ausdrückliche Regelung zur Durchführung von Hybridsitzungen, obwohl es „in Fällen höherer Gewalt“ für solche Sitzungen eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gibt (vgl. § 35a Gemeindeordnung Schleswig-Holstein (GO SH) ), und die Bürgerschaft entsprechende Umsetzungsvorschriften (vgl. § 2a Abs. 1 Hauptsatzung der Hansestadt Lübeck und § 6 Abs. 9 der Geschäftsordnung der Bürgerschafft der Hansestadt Lübeck) geschaffen hat.
Der Entwurf des Büros der Bürgerschaft ist daher um die grün unterlegten Textpassagen zu ergänzen.
Nur so ist zu gewährleisten, dass die vom Gesetzgeber vorgesehenen (und von der Lübecker Bürgerschaft in der Hauptsatzung und in der Geschäftsordnung übernommenen) gesetzgeberischen Zielvorstellungen rechtssicher umgesetzt werden.
2. Im Einzelnen:
- Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Vorschriften vom 7. September 2020 (GVOBI. Schl.-H. S. 514) die Durchführung von Sitzungen in Gestalt von Videokonferenzen ermöglicht (§ 35a GO, § 30a KrO, § 24a AO i.V.m. § 35a GO, § 5 Absatz 6 GkZ i.V.m. § 35a GO).
- Aus der Allgemeinen Begründung des Gesetzesentwurfes ergibt sich zweifelsfrei, dass auch Hybridsitzungen vom Gesetzeswortlaut erfasst und somit gedeckt sind.
Zwar spricht der Wortlaut in § 35a GO SH ganz allgemein lediglich von einer „Videokonferenz“. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedoch zweifelsfrei, dass auch eine Hybridsitzung eine „Videokonferenz“ im Sinne des Gesetzes ist.
Wörtlich heißt es hierzu in der amtlichen Begründung zu § 35a (Drucksache 19/2243) u.a.:
„Soweit nach der Neuregelung möglich ist, eine Sitzung mit allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als Videokonferenz durchzuführen, ist es auch möglich, wenn es die jeweilige Lage hergeben sollte, eine Präsenzsitzung durchzuführen mit der Möglichkeit, einzelnen Gemeindevertreterinnen und Gemeindevertretern oder sonstigen Personen mit Teilnahmerechten, die z.B. in epidemischen Lagen einer Risikogruppen angehören, in einen Sitzungsraum zuzuschalten.“ (Fettdruck stammt vom Antragsteller)
- In der sodann verabschiedeten Fassung der Hauptsatzung (vgl. § 2a Abs. 1) und der Geschäftsordnung (vgl. § 6 Abs. 9) hat die Lübecker Bürgerschaft die Vorschrift des § 35 a GO SH ohne inhaltliche Abstriche und Einschränkungen übernommen und sich somit auch die in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommene Interpretation bezüglich einer Hybridsitzung zu Eigen gemacht.
Jedenfalls hat sie keinen abweichenden Willen zum Ausdruck gebracht.
- Bei der vorstehend geschilderten Sachlage ist es daher dringend geboten, die Anlage zur Geschäftsordnung um eine Regelung zur Durchführung von Hybridsitzungen zu ergänzen, um den vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachten und von der Lübecker Bürgerschaft übernommenen Gesetzeswillen Geltung zu verschaffen.
Es sind keine nachvollziehbaren Gründe erkennbar, die Aufnahme einer entsprechenden Regelung zur Durchführung von Hybridsitzungen in die Anlage zur Geschäftsordnung verweigern zu wollen.
Nach dem Willen des Gesetzgebers (und der Lübecker Bürgerschaft)
- gibt es für Hybridsitzungen einen entsprechenden Bedarf (z. B. Schutz bestimmter Risikogruppen; weitere Anwendungsfälle siehe nachfolgend unter 3. a),
- gibt es mit § 35a GO SH/Hauptsatzung und Geschäftsordnung HL geeignete Rechtsgrundlagen und
- gibt es spätestens zu Weihnachten auch eine entsprechende Technik, die die Durchführung solcher Hybridsitzungen sicherstellen kann.
3. Vorsorglich ist noch auf Folgendes hinweisen:
- In einem Runderlass des Innenministeriums vom 29. Oktober 2020 sind Ausführungen enthalten, die sich mit den Anlässen beschäftigen, die zur Durchführung von Videokonferenzen nach § 35a GO SH berechtigen.
Dabei weist das Innenministerium darauf hin, dass neben den in der Gesetzesbegründung beispielhaft aufgeführten Risikogruppen die Regelung zum Beispiel auch für Mandatsträgerinnen und Mandatsträger gilt, die sich in Quarantäne befinden oder die sich möglicherweise bei der Anreise zur Sitzung Infektionsrisiken aussetzen könnten.
- In einem weiteren Runderlass des Innenministeriums vom 15. April 2021, der sich auch mit der Vorschrift des § 35a GO SH auseinandersetzt[1], sind Ausführungen enthalten, die auch für die Durchführung von Hybridsitzungen Relevanz beanspruchen.
In dem vorstehenden Runderlass erinnert das Innenministerium auf Seite 5 noch einmal daran, dass der Gesundheitsschutz der Mandatsträgerinnen und Mandatsträger ein ausschlaggebendes Motiv für die Schaffung der Regelung des § 35 a GO SH gewesen sei.
- Schließlich weist das Innenministerium in dem Runderlass (S. 6) darauf hin, dass die Regelung des § 35a GO SH auch „die Wahrnehmung des freien Mandats“ sichern soll.
„Die Wahrnehmung des freien Mandats der Gemeindevertreter hat – obwohl dies nicht ausdrücklich im Grundgesetz oder in der Landesverfassung geregelt ist – Verfassungsrang (BVerfG, Die Gemeinde 1975 S. 53).“[2]
Mit anderen Worten:
Wenn zum Beispiel in Zeiten einer Pandemie einer Gemeindevertreter:in, die einer gesundheitlicher Risikogruppe angehört oder sich in Quarantäne befindet und deswegen an einer Präsenzsitzung nicht teilnehmen kann, nicht die Möglichkeit der Teilnahme in der Form einer Hybridsitzung eingeräumt wird, obwohl es rechtlich und tatsächlich (technisch) unter den Voraussetzungen des § 35a GO SH eine solche Möglichkeit gibt, dann wird verfassungswidrig in deren Recht auf „Wahrnehmung des freien Mandats“ eingegriffen.
Es stellt eine schwere Pflichtverletzung dar, wenn der/die Vorsitzende der Gemeindevertretung bei der gegebenen Gesetzeslage „in Fällen höherer Gewalt“ die Ausübung des „freien Mandats“ dadurch blockiert, dass er/sie sich weigert, einem Gemeindevertreter oder Gemeindevertreterin die Teilnahme an der Gemeindevertreterversammlung in der Form einer Hybridsitzung zu ermöglichen.
Wer sich zum Beispiel in Quarantäne befindet, dem ist es bei Strafandrohung verboten, in Präsenz an einer Sitzung der Gemeindevertretung teilzunehmen. In einem solchem Fall soll einer Gemeindevertreter:in als Ersatz zumindest die Möglichkeit einer virtuellen Teilnahme in der Form einer Hybridsitzung eingeräumt werden.
So wird mit der Durchführung einer Hybridsitzung die Wahrnehmung des verfassungsrechtlich geschützten „freien Mandats“ gesichert.
Es ist kein vernünftiger Grund erkennbar, sich „in Fällen höherer Gewalt“ dieser gesetzlichen Handlungsoption zu verschließen.
- Das Unterlassen, die Anlage zur Geschäftsordnung um eine Regelung für Hybridsitzungen zu ergänzen, könnte demnach zu erheblichen rechtlichen Konsequenzen führen. Betroffene Gemeindevertreter könnten im Rahmen einer sog. kommunalverfassungsrechtlichen Streitigkeit vor das Verwaltungsgericht ziehen und mit guten Erfolgsaussichten einen verfassungswidrigen Eingriff in das „freie Mandat“ rügen.[3]
Eine solche (peinliche) Konsequenz ließe sich unschwer durch eine entsprechende Ergänzung der Anlage zur Geschäftsordnung vermeiden.