Haushaltsrede von Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD) vor der Lübecker Bürgerschaft am 26. November 1998:
"Der Haushalt liegt der Bürgerschaft rechtzeitig vor. Er ist mit dem vorgelegten Inhalt auch genehmigungsfähig. Die Bürgerschaft beschließt heute über ein Haushaltsvolumen der Stadtverwaltung und ihrer Betriebe von rund 2,6 Milliarden Mark, darin eingeschlossen Investitionen für die regionale Wirtschaft in einer Größenordnung von rund 330 Millionen Mark.
Die Stadt einschließlich ihrer Betriebe ist mit den rund 10.000 Beschäftigten, wie wir wissen, der weitaus größte Arbeitgeber in der Region. Mit ihren Investitionen stabilisiert sie den zur Zeit schwierigen örtlichen Arbeitsmarkt. Dabei sei nur angemerkt, daß die Gesamtinvestitionen in 1999 noch um rund 30 Millionen über denjenigen des letzten Haushaltsabschlusses liegen werden. Das ist ein wichtiger Beitrag der HL für die Region mit zuletzt rund 13 Prozent Arbeitslosen und über 15.000 Sozialhilfeempfängern.
Der Haushalt ist nicht ausgeglichen. Das Defizit im Verwaltungshaushalt beträgt noch 12,4 Millionen Mark (= rund 0,5 Prozent von 2,5 Milliarden Mark). Zum ersten Mal seit langer Zeit werden jedoch nicht nur keine neuen Fehlbeträge produziert. Das aus dem Jahr 1997 abzudeckende Defizit von rund 26,6 Millionen Mark konnte vielmehr um 14,2 Millionen abgebaut werden. Das ist ein großer Erfolg, der den MitarbeiterInnen zu danken ist, den Budgetverantwortlichen, den ControllerInnen und den BereichsleiterInnen.
Ihnen ist auch dafür zu danken, daß das Haushaltsverfahren und die Ihnen entgegengebrachten Unterlagen so übersichtlich gestaltet werden konnten. Die wirklichen Budgetrisiken und damit die gemeinsamen Zukunftsaufgaben von Bürgerschaft, Verwaltung und Betrieben für 1999 sind daraus klar zu ersehen: Sie liegen einerseits in der Verfeinerung der Steuerungsaufgaben im Verwaltungshaushalt einiger Fachbereiche. Daran arbeiten wir.
Weitaus bedeutsamer und schwieriger ist die Neugestaltung der Steuerung der stadtangehörigen Betriebe und der Gesellschaften, im folgenden Betriebe genannt. Gemeint ist das Verhältnis von Bürgerschaft, Fachbereichen und Betrieben.
Zu der Lage der Betriebe einige Bemerkungen:
Die neunzehn Betriebe, die wir im Laufe der Jahre - und seit 1992 verstärkt - ausgegliedert haben, erreichen 1999 zusammen ein Haushaltsvolumen von rund 1,5 Milliarden Mark, darin enthalten ein Investitionsvolumen von über 200 Millionen Mark. Demgegenüber reduziert sich der Haushalt der Verwaltung auf 1,1 Milliarden Mark, davon 127 Millionen Mark an Investitionen.
Da die Steuerung der Betriebe und der Verwaltung nach Paragraph 65 der Gemeindeordnung in der Verantwortung des Bürgermeisters steht, die dieser gegenüber der Bürgerschaft wahrzunehmen hat, werde ich Anfang Dezember den Fraktionen einen Vorschlag unterbreiten, wie die Steuerungsverantwortung für die Betriebe neu geordnet werden kann.
Dies ist auch geboten. Denn zu keinem Zeitpunkt ist ein Haushalt vorgelegt worden, der mit größerer Deutlichkeit den Finger in die Wunde der Steuerungsdefizite der Betriebe gelegt hat. Zur Steuerungsaufgabe der Betriebe gehört selbstverständlich die rechtzeitige Positionierung für Zukunftsaufgaben.
Die Stadtwerke sind dafür nur ein Beispiel. Wer den Wirtschaftsplan 99 liest und im ÖPNV- Bereich lediglich eine 10-Prozent-Erhöhung der Fahrpreise einrechnet, landet 2002, das heißt in vier Jahren, schon bei einer von der Stadt zu tragende Verlustabdeckung von rund 25 Millionen Mark. Heute sind es noch rund 14 Millionen Mark. Ich spreche nicht von dem Defizit des ÖPNV, das über Gewinne aus Gas, Wasser und Elektrizität abgedeckt wurde und wird, sondern von der Verlustabdeckung. Im eigentlichen Sinne bedrohlich ist das rasche Anwachsen der Verluste. Während die Verlustabdeckung der Jahre 1981 bis 1998, das heißt 17 Jahre lang insgesamt nur 5,5 Millionen Mark betrug, beläuft sich der Verlust, der in 1999 droht, und zwar ohne Schwimmbäder, schon auf 6 Millionen Mark.
Die hervorragenden Leistungen der Stadtwerke in der Vergangenheit und Gegenwart seien in keiner Weise in Zweifel gezogen. Um ihre Zwangslage zwischen betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit und bürgerschaftlichem Auftrag, die heute in den Zahlen des Wirtschaftsplans überdeutlich wird, waren und sind sie wahrlich nicht zu beneiden. Wir müssen aber heute gemeinsam das Ruder herumwerfen, und zwar radikal, so lange das noch möglich ist. Ich habe das dazu Erforderliche an anderer Stelle ausgeführt.
Zu der Steuerungproblematik, für die wir Lösungen brauchen, nur zwei Beispiele, die - das sei ausdrücklich hervorgehoben - auch für andere Betriebe gelten können: Daß die zuständigen Gremien der Stadtwerke etwa bei dem ÖPNV eine Defizitgrenze von 40 Millionen beschließen, ist gut so. Man darf dann nur in der Folge keine Beschlüsse treffen, die diese Zielerreichung ausschließen und gleichzeitig die Leitung der Stadtwerke für das Defizit von heute rund 43 Millionen Mark im ÖPNV verantwortlich machen. Die Methode "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!", das heißt widersprüchliches Verhalten der Gremien zu vermeiden, ist Teil der gebotenen Neuordnung der Steuerungsverantwortung.
Oder ein anderes Beispiel, das in die gleiche Richtung zielt: Im Aufsichtsrat einer unserer insgesamt 19 Betriebe, und zwar derjenigen zehn davon, die am Tropf der Stadt hängen, das heißt, die im Haushalt aus allgemeinen Deckungsmitteln subventioniert werden, sitzen führende Vertreter der Fraktionen. Sie beschließen dort in den Wirtschaftsplänen der Gesellschaften, daß zum Beispiel Marketingmaßnahmen um 700.000 Mark erhöht werden müssen. Das ist vielleicht aus Sicht der einzelnen Gesellschaften heraus richtig. Die gleichen führenden Vertreter der Fraktionen beschließen aber in der Bürgerschaft knochenharte Sparziele für die Verwaltung im übrigen. Das ist auch richtig. Wir wollen den Haushaltsausgleich ja erreichen.
Aber, ich frage, wo, in welchem öffentlichen Forum und auf welche Weise vorbereitet, wird denn abgewogen, ob diese Mittel für Marketing nicht besser aufgeschoben werden in die Zeit nach dem Haushaltsausgleich? Warum wird nicht ernsthafter erwogen, diese Mittel durch eine veränderte Prioritätensetzung in der Gesellschaft selbst gegebenenfalls im Bereich bereitzustellen? Oder, wenn man es als Bürgerschaftsfraktion schon für unerläßlich hält, draufzulegen, warum dann nicht statt dessen im Bereich der Kindergärten oder der Wohlfahrtspflege? Einrichtungen, die mit ihren Mehrbedarfen aufgrund der sich seit Jahren langsam und heute eben radikal verändernden sozialen Struktur unserer Familien und unserer Kinder inzwischen wirklich am Ende der städtischen Skala liegen.
Diese Gruppen und die zuständigen städtischen MitarbeiterInnen halten mit ihren unausweislichen Mehrbedarfen still, vielleicht in der Hoffnung auf Solidarität in Zukunft. Ich füge hinzu: auf die Zeit nach dem Haushaltsausgleich. Einem Haushaltsausgleich übrigens, zu dem sie durch ihr Stillhalten mehr beitragen als Tourismusförderung und Kongreßwesen zusammen. Es handelt sich bei Tourismusinvestitionen aus der Sicht der ärmeren zwei Drittel unserer Bevölkerung eben um Luxus, den wir uns die nächsten zwei bis acht Jahren so nicht leisten können. Es sei denn, die finanziellen Bedingungen der Stadt ändern sich.
Es ist für mich, meine Damen und Herren, schlicht eine Frage der Gerechtigkeit, die wir hier aushalten müssen. Es darf nicht so weit kommen, daß man die Kindergärten in eine GmbH umwandeln muß, um ihnen gleiche Wohltaten angedeihen zu lassen wie den im Licht der Presse stehenden Einrichtungen des Tourismus und des Kongreßwesens. Damit Sie mich recht verstehen, ich kenne die Bedeutung dieser Einrichtungen für unsere Stadt. Ich habe sie - etwa mit dem Eventbüro in der Verwaltungsvorlage zum Haushalt - selbst gefördert. Ich frage nur, warum gerade jetzt diese Erhöhungen der Budgets, wo wir das Demokratieziel, den Haushaltsausgleich, fast erreicht haben. Und warum dann in dieser Höhe?
Ich wiederhole deshalb meinen Vorschlag aus 1996, den Hauptausschuß als Forum und Steuerungsinstrument für die Betriebe einzusetzen und dort die Betriebsziele mit den Stadtzielen zu koordinieren.
Ein zweiter Gesichtspunkt ist mit der Verabschiedung des diesjährigen Haushalts verbunden: Das ist die aus meiner Sicht uneingeschränkte Verpflichtung der Hansestadt Lübeck zur Vorlage eines ausgeglichenen Haushalts.
Es geht mir dabei nicht um l'art pour l'art, das heißt um reinen Selbstzweck, sondern um die Wiedergewinnung der örtlichen Demokratie. Unsere MitarbeiterInnen haben dies inzwischen begriffen. Sie strengen sich wirklich bewunderungswürdig an. Es geht eben nicht um den Haushaltsausgleich als solchen. Wenn das der Fall wäre, hätten wir das Ziel in den letzten 20 Jahren schon achtmal erreicht, seit 1988 alleine viermal. Der springende Punkt ist vielmehr: Diese Ausgleiche haben wir mehr oder weniger nur zufällig, im Nachhinein, geschafft. Durch nicht voraussehbare Veränderung der allgemeinen Deckungsmittel etwa. Ein solcher Haushaltsausgleich im Nachhinein hat nichts mit der eigentlichen Kärrneraufgabe zu tun, vor der wir heute stehen: den Haushalt im vorhinein so zu planen, daß er bereits im Satzungsbeschluß zum Ausgleich gebracht wird. Darum geht es, und zwar aus Gründen der Demokratie.
Denn es ist für die BürgerInnen und die Politik ein großer Unterschied, ob ich Baumaßnahmen oder soziale und ökologische Projekte über Personal- und Sachmittel für die Zukunft unserer Stadt aus Überschüssen des Verwaltungshaushalts finanziere, oder ob ich den bisherigen Weg des Känguruhpolitikers fortsetze: große Sprünge bei leerem Beutel zu Lasten unserer Nachfolger. Dieses letztere Verhalten hat mit demokratischer Verantwortung nichts zu tun. Und die BürgerInnen haben für ein derartiges Verhalten zu Recht auch keinerlei Verständnis.
Dazu wieder zwei Bemerkungen: Die beiden großen Fraktionen werden - wenn ich dies richtig sehe - den Verwaltungshaushalt um drei Millionen, den Vermögenshaushalt um eine Millionen im Ergebnis verschlechtern. Ferner wird heute eine Grundsatzentscheidung zur Messehalle fallen. Warum, frage ich, werden in Höhe von drei Millionen Mark schon heute Wohltaten verteilt? Warum geschieht im Vermögenshaushalt in Höhe von einer Millionen Mark gleiches? Hinsichtlich des Vermögenshaushaltes wird deshalb für 1999 auf den Behindertenaufzug im Rathaus verzichtet werden müssen, weil der Vermögenshaushalt andernfalls nicht genehmigungsfähig ist. Und im Verwaltungshaushalt gefährdet man mit einem derartigen Vorgehen die Budgetdisziplin. Wo bleibt der ernsthaftere Versuch durch Umschichtung oder Aufgabe beziehungsweise Einschränkung nicht mehr erforderlicher Leistungen, das Ziel einzuhalten?
Hätte man nicht die hier fragliche Klientel darauf verweisen können, daß ihre möglicherweise bestehenden Bedarfe dann befriedigt werden können, wenn es etwas zu verteilen gibt, voraussichtlich 1999 für den Haushalt 2000. Dann hätte man die Voraussetzung schaffen können, daß die Überschüsse in einem öffentlichen - und zwar demokratisch breit legitimierten - Ringen um Prioritäten verteilt werden, an dem sich alle gesellschaftlich relevanten Gruppen dieser Stadt hätten beteiligen können. Dann und in Zukunft könnte man Gruppeninteressen auf die zu erzielenden Überschüsse und auf ein derart organisiertes Verfahren verweisen.
Ich will mit einem dritten Gedanken, der mit dem vorgelegten Haushalt eng verbunden ist, zum Schluß kommen. Es ist der anstehende Leitbildprozeß. Mit der Auswahl des Moderators am 20. dieses Monats haben wir den Leitbildprozeß begonnen, in den alle relevanten Gruppen unserer Stadt eingebunden werden sollen. Sie wissen, daß es durchaus unterschiedliche Auffassungen zwischen den Wirtschaftsverbänden und mir gibt, was die Einbeziehung des Agenda-21-Prozesses in das Leitbild angeht. Ich stehe aber dafür, daß diese Auffassungen fair ausgetragen werden. Deshalb habe ich es bedauert, daß der schwierige Konsens zwischen den Wirtschaftsverbänden und den Bewohnerinititativen in dem Kompromiß zur Verkehrsberuhigung über die Marketingmaßnahmen in Frage gestellt wurde. Wir sollten daraus gemeinsam lernen, daß es notwendig ist, ein Brot nicht nur gemeinsam zu backen, sondern es anschließend auch gemeinsam zu verzehren. Der Leitbildprozeß ist zu wichtig, als daß wir ihn kurzsichtig aufs Spiel setzen sollten.
Im Rahmen dieses Prozesses wird auch zu klären sein, was etwa mit Großprojekten wie die Messehalle oder dem Welcome-Center an der Holstentorhalle, an deren Vorlage gearbeitet wird, geschehen soll. Beide Projekte liegen einschließlich der erforderlichen Infrastruktur zusammen in einer Größenordnung von rund 90 - 100 Millionen Mark. Sie sind sicherlich zur Tourismusförderung bedeutsam. Aber sie sind zur Zeit nicht durch die Stadt finanzierbar. Denn die Investitionshaushalte sind für die nächsten acht bis zehn Jahre ausgereizt. Die Sonderfinanzierungsprogramme für die LVA, MuK und Nordtangente geben für zusätzliche Finanzierungsüberlegungen aus Grundstücksverkäufen usw. keinen Raum mehr. Es kann demnach nur über private Betreiber ein Finanzierungsmodell aufgebaut werden.
Ich sehe auch dann, wenn wir im Jahre 2000 den Ausgleich erreichen, ohne grundsätzliche weitere Verbesserung in den allgemeinen Deckungsmitteln, keinen Spielraum für derartige Projekte. Denn noch haben wir die Pflicht zu erfüllen, nicht die Kür. Die Schulen etwa haben einen Rückstau von rund 30-40 Millionen Mark, alleine die Dampfheizungen betreffend. In 60 Jahren wird die letzte Schule saniert sein, wenn wir das Programm, so wie bisher vorgesehen, fortführen. Schulen haben aus meiner Sicht aber allemal Priorität vor Welcome-Centern.
Oder wir haben einen Rückstau bei unseren Straßen für die nächsten zehn Jahre von rund 450 Millionen Mark. Und der Fernwärmeausbau, den wir 1995 beschlossen haben, wird über die nächsten acht Jahre verteilt, jährlich rund drei Millionen zusätzliche Mittel benötigen. Das ist ebenfalls die Pflicht, die der Kür vorgeht.
Gibt es denn Hoffnung auf Veränderung der allgemeinen und damit auch der finanziellen Bedingungen für die Stadt? Uneingeschränkt ja! Die Stadt wird sich bis zum Jahr 2005 mit einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht dagewesenen Programm beschleunigen, was die Verkehrsinfrastruktur angeht. Die Region wird mit staatlichen und kommunalen Mitteln in Höhe von rund zwei Milliarden Mark im Bereich von Straße, Schiene und Hafen leichter erreichbar. Allein der Bau der A 20 wird es möglich machen, etwa Stralsund nicht in vier Stunden wie heute, sondern in eineinhalb Stunden zu erreichen und umgekehrt. Deshalb ist auch keine Frage, daß Stadt und Region außerordentlich gewinnen werden, was ihre Attraktivität für Investoren angeht.
Für die Stadt und ihre BewohnerInnen selbst wird daraus jedoch nur dann ein Zukunftskapital, wenn wir unsere Aufgabe in die Hand nehmen, die sozialen und ökologischen Qualitäten zu stärken. Die Umstellung von der materiellen auf die sogenannte "immaterielle Produktion", wie sie in dem Weißbuch der Europäischen Kommission "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung, Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert" beschrieben wird, ist die Zukunftsaufgabe auch unserer Stadt. Beherrschendes Merkmal der Volkswirtschaft des 21. Jahrhunderts wird die Organisation, Verbreitung und Nutzung von Kenntnissen sein.
Die Instrumente dafür haben wir geschaffen. Jetzt sollten wir jede Mark, die wir zusätzlich erwirtschaften, dieser Aufgabe verschreiben. Dann werden wir Lübeck als Europäische Stadt ins nächste Jahrhundert führen können." +++