Veröffentlicht am 24.03.2022

Bittersüß! Lübecker Archäologie zeigt berühmten Tortenfund im Holstentor

Süß ist die Torte, bitter die Wahrheit: Ausstellung lässt Sinnlosigkeit des Krieges und der Zerstörung bewusstwerden

Ein Foto der Torte aus dem Jahr 1942. (24. März 2022)

Vor 80 Jahren an Palmsonntag 1942 flog die Royal Airforce ihren bislang stärksten Angriff auf eine deutsche Stadt – es sollte ein flächendeckender Angriff auf ein ziviles Wohnviertel erprobt werden. Vor 80 Jahren sollte es an diesem Tag bei der Kaffeetafel von Familie Hitze in der Alfstraße 18 eine Torte geben. Diese stand mit dem gesamten Kaffeeservice schon bereit – dann fielen die Bomben.

Das Haus bekam einen Treffer, brannte aus und die Etagen stürzten hinab und fielen bis in den Keller hinein. Sie begruben alles unter sich, auch die Torte, die jedoch wie durch ein Wunder von den Schuttmassen und Brandbomben verschont wurde: Eingekeilt zwischen Trümmerteilen im Keller lag sie im Verborgenen, bis sie im Sommer 2021 durch notwendig gewordene archäologische Maßnahmen wiederentdeckt wurde.

Um an das Schicksal der Menschen an diesem einschneidenden Tag in der Lübecker Geschichte zu erinnern und den einmaligen Fund, der in der Presse weltweit viral Beachtung fand, zeigt die Lübecker Archäologie erstmals überhaupt die Torte nebst ausgewählten weiteren Funden im Holstentor in einer kleinen Ausstellung.

Kultursenatorin Monika Frank eröffnete heute, 24. März 2022, gemeinsam mit Dr. Manfred Schneider, Bereichsleiter Archäologie und Denkmalpflege Hansestadt Lübeck, und Dr. Dirk Rieger, Leiter der Abteilung Archäologie Hansestadt Lübeck, die Präsentation im Lübecker Wahrzeichen, die bis 24. April 2022 besichtigt werden kann.

„80 Jahre nach den traumatischen Ereignissen der Teilzerstörung Lübecks ist Krieg in Europa erneut eine bittere Realität“, erklärt Kultursenatorin Frank. „Wir erinnern mit der kleinen Studioausstellung im Holstentor und den überraschenden aus dem damaligen Alltag gerissenen archäologischen Funden an dieses Ereignis in der Hansestadt. Damals hat ein brutaler Angriffskrieg einen weltweiten Flächenbrand ausgelöst, dessen Sinnlosigkeit in der Zerstörung des harmlosen Alltags einer Lübecker Familie jetzt durch die aktuellen archäologischen Funde greifbar geworden ist.“

Dr. Rieger ergänzt: „Die Menschheit sollte aus der Geschichte lernen und sie nicht wiederholen. Der Fund der Torte und ihre erhaltene Fragilität stehen jedoch auch dafür, dass sich nicht alles zerstören lässt und dass auch feine Dinge wieder ans Licht kommen können – wie die Hoffnung auf Frieden.“ Mit Blick auf die Torte fügt Dr. Schneider hinzu: „Wir hätten gern auf diese archäologischen Funde verzichtet und Familie Hitze am Palmsonntag 1942 in der Alftraße 18 die geplante Kaffeetafel mit der in Kriegszeiten sicher seltenen Nusstorte gegönnt. Es kam anders, trotz Feuersturm hat die Torte, ein eigentlich flüchtiges Tagesprodukt, auf wundersame Weise bis heute überlebt und dokumentiert diese für Lübeck einschneidende Nacht. Archäologie hat damit wieder einmal ihre Chance gezeigt, unmittelbare Einblicke in Momente vergangener Ereignisse zu ermöglichen.“

Unter dem Titel „Bittersüß – Der Tortenfund von Lübeck 1942-2022“ wird die Geschichte jener Nacht, ein kurzer Einblick in das private Leben der Zeit und einige der herausragenden Fundstücke der Ausgrabung präsentiert. Zu den Klängen von Beethovens Mondscheinsonate, die ebenfalls als verbrannte Schellackplatte gefunden wurde, wird die Sinnlosigkeit des Krieges und der Zerstörung bewusst. Süß ist die Torte, bitter die Wahrheit, dass die Nazis unter der Operation „Mondscheinsonate“ zwei Jahre zuvor Coventry in England angriffen – das Palmarum gilt mitunter als Revanche.

Hintergrund

Palmsonntag 1942 – der Luftangriff auf Lübeck. Dies ist das Ausgangsszenario für einen sehr ungewöhnlichen archäologischen Fund, den die Abteilung Archäologie der Hansestadt zu Füßen der Marienkirche in der oberen Alfstraße bei Schachtsetzungen im Sommer 2021 freilegte. Es handelt sich um eine ganze Torte. Das fein mit Glasur, Randverzierungen und Spritzdekor versehene Backwerk ist nahezu unversehrt und war sorgsam in Wachspapier eingeschlagen. Zwar stark verkohlt und durch die Hitze auf nur noch ein Drittel ihrer ursprünglichen Höhe zusammengeschrumpft, ist sie dennoch im Detail und in all ihren Facetten erkennbar.

Durch den Luftangriff zerstörte, herabstürzende Bauelemente haben scheinbar einen Teil des Erdgeschosses des ehemaligen Hauses Alfstraße 18 in den Keller abrutschen lassen. Hier befand sich auch die Küche und in dieser auch die Torte, die - von Schuttteilen umgeben und abgedeckt - somit vor der Zerstörung geschützt wurde. Es ist momentan das einzige archäologisch freilegte Feingebäck seiner Art in Norddeutschland und ein überaus bedeutsamer Fund - vor allem für die Hansestadt. Und er trat nicht allein auf: Neben der Torte lag ein ganzes Kaffeeservice, das sicherlich für die private Kaffeetafel am betreffenden Palmsonntag gedacht war.

In dem zerstörten Haus in Alfstraße wohnte unter anderem ein Lübecker Kaufmann namens Johann Hitze, das geht aus alten Stadtbüchern hervor. +++