Im Rahmen der begleitenden Politik-Arbeitsgruppe des Gutachtens zur Beurteilung der Auswirkungen und Kosten bei Veränderungen der Organisationsstrukturen, der ÖPNV-Tarife und Tarifstrukturen in der Hansestadt Lübeck (Tarifgutachten, VO/2020/09616) wurde deutlich, dass eine Anpassung der Tarife ohne flankierende Maßnahmen auf der Angebotsseite nicht zu einer wesentlichen Verbesserung der Nutzung des ÖPNV führen wird. Vor diesem Hintergrund fasste die Bürgerschaft am 26.09.2019 unter TOP 9.21.27 (VO/2019/8082-27-01) im Rahmen der Haushaltsberatungen den Beschluss, ergänzend zum Tarifgutachten ein weiteres Gutachten erstellen zu lassen, welches die Angebotsseite des hiesigen ÖPNV beleuchtet und vor allem aufzeigt, wo Takte ausgeweitet und das Liniennetz erweitert werden könnte. Dieses Gutachten wurde ebenso wie das Tarifgutachten an die mobilité Unternehmensberatung GmbH & Co. KG und BSL Transportation Consultants GmbH & Co. KG vergeben.
Die Idee hierbei war es, Maßnahmen zur tariflichen Attraktivierung „aus einem Guss“ mit Maßnahmen zur Angebotsoptimierung zu entwickeln, um hiermit ein schlüssiges Gesamtpaket zu schnüren. Die dem Gutachter vorgegebene und konkretisierte Zielrichtung der Politik im begleitenden Workshop war eine Ausweitung des Leistungsangebotes um rund 10 % mit möglichst spezifischen Maßnahmen, die eventuell vorhandene Kapazitäts-Engpässe abbauen und Nachfragesteigerungen bewirken sollte, zusammen mit einer Erhöhung der Nachfrage durch dosierte tarifliche Maßnahmen unter Wahrung einer Defizitsteigerung bei SL innerhalb eines Rahmens von bis zu 6 Mio. Euro pro Jahr. Dieser Wert wurde vor der Corona-Pandemie festgelegt. Bei der Bewertung der empfohlenen Maßnahmen wurde angenommen, dass diese Gelder, trotz einer möglichen Defizitverschlechterung auf Grund der Pandemie, weiterhin zur Verfügung stehen.
Die Gutachter unterzogen das Angebot des Stadtverkehrs Lübeck (SL) und der Lübeck-Travemünder-Verkehrsgesellschaft (LVG) einer sog. 360-Grad-Analyse, bei der ein bundesweiter Quervergleich mit den Kennzahlen anderer deutscher Verkehrsunternehmen erfolgte. Die verwendeten Kennzahlen beziehen sich auf das Vor-Corona-Niveau. Hierbei wurde u. a. deutlich:
- die Mobilitätskosten (gemessen in Defizit pro Personenkilometer) sind mit 15,9 ct/Personenkm bei SL/LVG im Quervergleich zum deutschen ÖPNV recht hoch (bundesweiter Median bei 10,32 ct/Personenkm); die Ursache hierfür liegt in einer sehr niedrigen Auslastung der Busse von lediglich durchschnittlich 14,52 % über alle Tage (vgl. S. 10 f.);
- das Angebot von SL/LVG weist eine unterdurchschnittliche Marktdurchdringung von im Schnitt nur 94 ÖPNV-Fahrten pro Einwohner:in und Jahr auf (im bundesweiten Mittel: 157 ÖPNV-Fahrten pro Einwohner:in pro Jahr) (vgl. S. 12).
Zu Beschlusspunkt 1 a:
In naher Zukunft sollen die Bemühungen intensiviert werden, der durch das Gutachten dargestellten Auslastungsproblematik im Busverkehr dergestalt zu begegnen, dass einerseits durch einen deutlichen Angebotsausbau auf den starken Linien die Fahrgastzahlen wieder auf ein stärkeres Niveau (Bezugsgröße: Modal Split zum Zeitpunkt des letzten VEP 2000) ansteigen und andererseits für schwächere Linien im Netz passgenaue Lösungen, die bedarfsgesteuert als On-Demand-Verkehre funktionieren, entwickelt werden. Die Optimierung der bestehenden Auslastung ist auch aus der Sicht des Gutachters ein wesentlicher Stellhebel für den ökologischen Beitrag, den der ÖPNV im Rahmen der aktuellen Klimaschutzdiskussionen leisten kann.
Um eine fundierte Grundlage für eine nachhaltige Ausweitung des ÖPNV-Angebots im Sinne der Verkehrswende zu erhalten, benötigen Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger eine aktuelle Quelle-Ziel-Datenerhebung, die zeitnah beauftragt werden sollte. Die Kosten für eine solche Erhebung liegen bei ca. 100.000 Euro. Haushaltsmittel für die Datenerhebung stehen im Produkt 547001 zur Verfügung.
Zu Beschlusspunkt 1 b:
Ein erster Schritt auf dem Weg hin zu einem attraktiveren ÖPNV sind zeitnahe punktuelle Ergänzungen einiger Fahrten auf den Linien 1, 2, 7, 9, um so bestehende Taktlücken insbesondere in der Vormittagszeit zum Winterfahrplanwechsel 2021 zu schließen. Durch die Schließung dieser Taktlücken entsteht ein zusätzliches Defizit. Der Gutachter kalkuliert hier Zusatzkosten von 0,5 Mio Euro bis hin zu 0,8 Mio Euro pro Jahr. Der tatsächliche Verlustausgleich ist abhängig von dem durch die Angebotsausweitung realisierten Zuwachs an Fahrgästen. Das Defizit ist dem Stadtverkehr in voller Höhe aus städtischen Mittel zu erstatten.
Zu Beschlusspunkt 1 c:
Weitere punktuelle Maßnahmen zum Ausbau des ÖPNV mit geringerer Umsetzungspriorität sind das Schließen von bestehenden Taktlücken der Linie 40 in der Vormittagszeit (30-Minutentakt statt 60-Minutentakt) sowie ein Angebotsausbau beim Linienast der Linie 2 zur Sudetenstraße (30-Minutentakt statt 60-Minutentakt zwischen Sudetenstraße und ZOB). Durch diese Maßnahmen entsteht ein zusätzliches Defizit. Der Gutachter kalkuliert hier Zusatzkosten von 0,5 Mio Euro bis hin zu 0,7 Mio Euro pro Jahr. Der tatsächliche Verlustausgleich ist abhängig von dem durch die Angebotsausweitung realisierten Zuwachs an Fahrgästen. Das Defizit ist dem Stadtverkehr in voller Höhe aus städtischen Mittel zu erstatten.
Zu Beschlusspunkt 1 d:
Eine Strategie im Hinblick auf On-Demand-Verkehre auf schwächeren Linien wird von SL bereits mit dem Projekt "in2Lübeck" vorangebracht, bei dem das LÜMO-Konzept auf weitere Teile des Stadtgebiets ausgeweitet werden soll. Von der Flexibilisierung des Angebots versprechen sich Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger gleichermaßen auch eine moderate Steigerung der Fahrgastzahlen bei gleichzeitig geringeren lokalen Schadstoff- und Lärmemissionen aufgrund des Einsatzes von kleineren E-Fahrzeugen. Für das Projekt hat SL Fördermittel in Höhe von ca. 1,2 Mio. Euro für drei Jahre beim BMBF beantragt, um On-Demand-Maßnahmen in Lübeck zu erproben. Falls die beantragte Förderung ausbleibt, muss eine alternative Finanzierung gefunden werden, die möglicherweise aus dem Haushalt der Hansestadt Lübeck zur Verfügung gestellt werden muss.
Zu Beschlusspunkt 1 e:
Die Erkenntnisse des Gutachtens zeigen, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit im Busnetz von SL und LVG im Durchschnitt rund 10 % unter der Durchschnittsgeschwindigkeit vergleichbaren Verkehrsunternehmen lag – trotz Vorhandensein der langlaufenden Schnellbuslinien 30, 32, 39 und 40. Der relativ langsamen Systemgeschwindigkeit im Busnetz sollte mit dem Ausbau konsequenter Busbeschleunigung begegnet werden. Hier liegen bereits gutachterliche Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung der Reisegeschwindigkeiten und notwendigen Infrastrukturmaßnahmen zur Verbesserung für verschiedene Schwerpunktkorridore aus 2018 vor. Besondere Relevanz hätte dies nicht nur für die bloße Reisegeschwindigkeit, sondern auch auf die Pünktlichkeit und Anschlusssicherheit. Auf welchen Korridoren die Busbeschleunigung als Mittel der Attraktivitätssteigerung des ÖPNV eingesetzt werden soll, wird der nächste VEP klären, da die Klärung dieser Frage ganzheitlich und auch mit Blick auf die Belange des Radverkehrs, Fußverkehrs und Kfz-Verkehrs erfolgen soll. Unbenommen davon soll an den Stellen, wo Busbeschleunigungsmaßnahmen auch konfliktfrei kurzfristig möglich sind, eine Umsetzung auch schon vorher erfolgen.
Zu Beschlusspunkt 1 f:
Als weiterer Baustein hin zu einem attraktiveren ÖPNV in Lübeck wird empfohlen, ein Konzept für die Umsetzung weiterer Schnellbuslinien erstellen zu lassen. Schwerpunkt hierfür sollen Stadtteile sein, die bislang weder über die Schiene noch über einen Schnellbus an das Netz des höherwertigen ÖPNV angebunden sind und entsprechend lange Reisezeiten ins Stadtzentrum aufweisen. Beispielhaft sei der Stadtteil Schlutup genannt, aus dem beim Stadtteilworkshop des Formats „LÜBECK überMORGEN“ der Wunsch nach einem Schnellbus geäußert wurde. Der Gutachter empfiehlt diesbezüglich eine separate vertiefende Un-tersuchung und Prüfung und sieht die Notwendigkeit für ein Gesamtkonzept im Kontext Busbeschleunigung.
Zu Beschlusspunkt 1 g:
Ergänzend zu den dargestellten Angebotsmaßnahmen werden durch den Gutachter weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für den ÖPNV empfohlen, die vor allem eine stärkere Vernetzung anderer Verkehrsmittel mit dem ÖPNV im Fokus haben. Diese sind im Einzelnen:
- Einführung symmetrischer Fahrpläne/ITF, Anschlussverbesserung zwischen Bus und Bahn;
- umfassende Anschlusssicherung über die Nutzung rechnergestützter Betriebsleitsysteme (ITCS);
- Vernetzung mit Sharingangeboten;
- Einrichtung von Mobilstationen an zentralen Standorten;
- sowie der Ausbau B&R und P&R.
Diese Aspekte fließen allesamt mit in den Prozess zum neuen VEP ein.
Zu Beschlusspunkt 1 h:
Der Gutachter sieht einige Aspekte und Rahmenbedingungen in Lübeck, die „wenig ÖPNV-freundlich“ sind. Dazu zählt eine insgesamt relativ günstige Parkraumsituation für den MIV sowohl im Hinblick auf das Parkplatzangebot wie auch im Hinblick auf die Parkkosten gegenüber der ÖPNV-Nutzung. Im Bereich der Parkgebühren im öffentlichen Raum hat sich im Rahmen der Analysen des Gutachters gezeigt, dass diese in Lübeck weit (fast 50 %) unter dem Durchschnitt deutscher Großstädte liegen. Hierbei wurde der Durchschnittspreis für die 1. Parkstunde werktags im öffentlichen Raum des Innenstadtbereiches betrachtet.
Aus dieser Erkenntnis heraus sollten zeitnah die bereits beschlossenen Vorgaben zum Parkraumangebot aus dem Rahmenplan Innenstadt umgesetzt werden sowie kurzfristig eine Anpassung der Parktarife geprüft werden. Zu dieser gutachterlichen Empfehlung gibt es auch Synergien zur Neufassung der Stadtverordnung über die Parkgebühren in der Hansestadt Lübeck durch den Bereich Stadtgrün und Verkehr (VO/2020/09052). Aus Sicht der Belange der Verkehrswende und des ÖPNV wird eine Anpassung der Parkgebühren ausdrücklich begrüßt.
Zu Beschlusspunkt 2:
Das vorliegende Gutachten hat für den ÖPNV-Aufgabenträger den Blick für Notwendigkeiten im Angebot von SL/LVG im Hinblick auf eine Verkehrswende geschärft. Aus Sicht des Aufgabenträgers Hansestadt Lübeck sollte beim ÖPNV-Angebot ein Strategiewechsel weg von einem nachfrageorientiertem Angebot und hin zu angebotsorientierten und fahrgast-generierenden Konzepten vollzogen werden und unsere kommunalen Verkehrsunternehmen SL und LVG noch stärker als bislang in die Lage versetzt werden, den Herausforderungen und Anforderungen an eine Verkehrswende gerecht zu werden.
Entsprechend der Erkenntnisse des Gutachters weist das ÖPNV-Angebot von SL/LVG eine unterdurchschnittliche Marktdurchdringung von im Schnitt nur 94 ÖPNV-Fahrten pro Einwohner:in und Jahr auf (im bundesweiten Mittel: 157 ÖPNV-Fahrten pro Einwohner:in pro Jahr).
Zum Vergleich: Vor 20 Jahren lag diese Zahl in der Hansestadt Lübeck noch bei 200 ÖPNV-Fahrten pro Einwohner:in und Jahr (Verkehrsentwicklungsplan 1999/2000).
Lübeck lag damit in der Spitzengruppe der ÖPNV-Akzeptanz mit vergleichbaren Städten. Gleichwohl ist festzustellen, dass damals mit dem sog. „Travetakt“ auch ein 10-Minutentakt auf allen wichtigen Hauptrelationen angeboten wurde. Das Angebot wurde in den beiden nachfolgenden Jahrzehnten Sparbemühungen unterzogen. Folglich weist die Hansestadt Lübeck nach Analyse des Gutachters ein unterdurchschnittliches Angebot von rund 3.200 Platzkilometern pro Einwohner:in auf (bundesweiter Durchschnitt: 3.800 Platzkilometer pro Einwohner:in).
Entsprechend ist der Modal-Split-Anteil des ÖPNV von 16 % (VEP 1999/2000) auf heute je nach Messweise rund 11 bis 12 % gesunken. Dabei verfolgte der letzte VEP eigentlich das Ziel, den Modal-Split-Anteil des ÖPNV auf 22 bis 23 % auszubauen mittels deutlicher Attraktivitätssteigerungen u. a. in Form konsequenter Busbeschleunigung.
Da in den beiden vorherigen Jahrzehnten der Fokus der Entwicklung des ÖPNV auf der Verringerung des Defizits lag, stehen Überlegungen, das Angebot spürbar zu verbessern, noch ganz am Anfang. Dies führt dazu, dass die politische Erwartung zur Angebotsausweitung mit diesem Gutachten noch nicht komplett abgearbeitet werden konnte und im ersten Schritt nur punktuelle Maßnahmen zur Angebotsausweitung (Beschlusspunkt 1 b und c) vorgelegt werden können.
Um den ÖPNV zu einem wesentlichen Träger der Verkehrswende zu machen, muss ein Prozess zur Entwicklung von weiteren Angebotsideen gestartet werden. Hierzu soll der Auftakt des neuen VEP den Startschuss geben.
Die Entwicklung des ÖPNV ist darüber hinaus ein wesentlicher Baustein der Stadtentwicklung und mit dieser untrennbar verbunden. Aus dieser Verantwortung heraus muss die strategische Planung des Angebots und der Entwicklung des ÖPNV in einem deutlich stärkeren Umfang als in den vergangenen Jahren wieder zur Kernaufgabe der Stadt werden. Auch angesichts der aufwändigen Infrastruktur, die die Stadt vorhält, sowie des hohen Instandhaltungsaufwands und Ausbaubedarfs ist der Aufgabe der strategischen ÖPNV-Planung mit Nachdruck und zwingend durch städtische Aktivitäten zu begegnen.
Die Beschlüsse haben finanzielle Auswirkungen für die Umsetzung der Beschlusspunkte 1 b und c (ab Winterfahrplanwechsel 12.12.2021). Es ist dann ein Ausgleich der Mehraufwendungen beim Stadtverkehr notwendig. Bei einer Umsetzung des Beschlusspunktes 1 b ist von Mehraufwendungen in Höhe von 750.000 Euro und bei einer Umsetzung des Beschlusspunktes 1 c ist von Mehraufwendungen in Höhe von 600.000 Euro pro Jahr auszugehen. Die finanziellen Mittel werden im Produkt 547001 ÖPNV im Zuge der Haushaltsplanung 2022 geordnet bzw. sind für 2021 zusätzlich zu ordnen.