Die autobiografischen Texte Thomas Manns sind offensichtlich mehr als ein sekundärer Kommentar zum Werk. Sie dürfen als Teil des Werkes betrachtet werden, und sie spielen zudem eine wichtige Rolle in Thomas Manns Verständnis von Autorschaft und Repräsentanz. Dennoch muss sich die Thomas Mann-Forschung selbstkritisch fragen, welchen Nutzen die Lektüre dieser Texte für die Interpretation des fiktionalen Werkes hat. Allzu häufig führen biografische Lesarten, nimmt man Thomas Mann zu direkt beim Wort, in die Irre. Auch die hier gebotene Vorsicht soll im Rahmen der Tagung diskutiert werden.
Zudem gilt für Erzählungen und Romane selbstverständlich, dass der Autor Thomas Mann nicht mit den von ihm geschaffenen Erzählerfiguren gleichzusetzen ist. So soll es gerade nicht darum gehen, verkürzenden autobiografischen Lesarten seines literarischen Werkes das Wort zu reden, denn: Zwischen der realen Lebenswelt des Autors und der literarischen Fiktion verläuft eine Grenze.
Aber Grenzüberschreitungen gibt es: Zum Beispiel durch inszenierte Selbstdarstellung des Autors in Erzähltexten, durch Maskenspiele, die man als literarische Strategie Thomas Manns verstehen kann.
Die Vorträge beleuchten diese Strategie anhand der Romane Buddenbrooks und Doktor Faustus; sie analysieren Thomas Manns Essay On myself, die Pariser Rechenschaft als Spielform des öffentlichen Tagebuchs und den selbstreflexiven Gestus seiner Würdigungen anderer Künstler. Die jungen Thomas Mann-Forscher setzen sich kritisch mit der Thomas Mann-Biografik auseinander. Schließlich sollen die Erkenntnisse aus aktuellen Briefeditionen diskutiert werden. Das Briefwerk, an das Thomas Mann den Anspruch der »Kunstübung« richtete, verlässt nicht immer erst mit der heutigen Edition den Raum des Privaten. Dass der Brief auch im Dienste öffentlicher Inszenierung stehen kann – dafür steht auf der Tagung abschließend das Beispiel des Offenen Briefes, der sich nicht nur an Zeitgenossen, sondern sogar ausdrücklich an die Nachgeborenen richten kann.
Das Programm
Zur Einführung des diesjährigen Herbst-Kolloquiums präsentieren Britta Dittmann (Lübeck) und Dr. Manfred Eickhölter (Lübeck) am 15.9 um 19 Uhr das Erika Mann-Konvolut am Vorabend des ersten Kolloquiumtages im Buddenbrookhaus.
Prof. Dr. Alexander Honold (Basel) eröffnet am Freitag, 16. September, die Tagung im Großen Bildersaal der Gemeinnützigen mit einem Vortrag über Thomas Manns Selbstnarrative. Thomas Mann hat die eigene Person stets als Materialquelle und als produktiven Bedingungsfaktor der literarischen Schaffensdynamik begriffen und setzt sich in werkbegleitenden Kommentaren und Selbstzeugnissen mit dem inneren Zusammenhang und den Stufen des eigenen literarischen Schaffens auseinander. Im Anschluss daran richtet Prof. Dr. Werner Frick (Freiburg i. Br.) den Blick auf Thomas Mann als Gratulant und Jubilar. Sein Vortrag setzt sich das Ziel, den eindrucksvollen (auto)biografischen Korpus von Selbst- und Fremdwürdigungen differenziert zu erschließen und als einen ungehobenen Schatz der Thomas Mann-Forschung sichtbar zu machen. Abschließend widmet sich Dr. Simone Costagli (Ferrara) in seinem Vortrag Thomas Manns Aufzeichnung Pariser Rechenschaft und thematisiert dabei das Tagebuch als Form der ideologischen Standortbestimmung.
Der zweite Tag beginnt mit der Sektion „Fiktionales Werk“. Prof. Dr. Matteo Galli (Italien) wird in seinem Vortrag mittels unterschiedlicher methodologischer Ansätze die Verfremdung des Autobiografischen bei Thomas Mann darstellen und anhand neuer Realismus-Verfahren sein ästhetisches Verfahren analysieren. Dr. Katrin Max (Leipzig) greift die Fiktionalität bei Thomas Mann aus einer anderen Perspektive auf, indem sie im Roman Buddenbrooks verschiedene Selbstinszenierungsstrategien des Autors aufgezeigt. Prof. Dr. Luca Crescenzi (Trient) schließt mit seinem Vortrag zur Selbstbiografik an und stellt die Strategien in den Werken Dr. Faustus und Entstehung des Dr. Faustus in den Fokus.
Das Nachmittagsprogramm umfasst drei Vorträge der jungen Thomas Mann-Forscher, die sich in ihren Vorträgen kritisch mit der Thomas Mann-Biografik auseinander setzen. Während Claudio Steiger (Neuchâtel) über neue Blickpunkte einer nicht-essentialistischen
Mann-Biografik referiert, befasst sich der Vortrag von Dr. Irmtraud Hnilica (Hagen) mit dem Biografischen innerhalb der eher unbekannten Novellen Gefallen und Gerächt und zeigt die Chancen und Grenzen des autobiografischen Erzählens auf. Von fiktivem Urlaub und anderen Räumen bei und mit Thomas Mann berichtet Dr. Jenny Bauer (Göttingen).
Bevor die Mitgliederversammlung der Dt. Thomas Mann-Gesellschaft beginnt, werden Führungen durch die Sonderausstellungen Fremde Heimat im Buddenbrookhaus und Don’t Fence me in – Frühe Arbeiten von Günter Grass im Günter Grass-Haus angeboten.
Schließlich sollen die Erkenntnisse aus aktuellen Briefeditionen am dritten und letzten Tag der Tagung diskutiert werden. Mit seinen geschätzten 35.000 Briefen stellt das Briefwerk Thomas Manns ein einzigartiges Korpus für die Forschung dar. In einer Diskussionsrunde mit den Herausgebern zweier aktueller Briefeditionen zur Familie Mann sollen exemplarische Fragen nach Rhetorik, Komposition, Medialität und Funktionalität der umfangreichen Überlieferung beantwortet werden. Abschließend befasst sich Dr. Johannes Endres (Riverside/USA) in seinem Beitrag über Mikrokosmische Autobiografie mit Thomas Manns Beteiligung an der 1938/39 aus Anlass der Weltausstellung in New York gefertigten „Time Capsule“ und untersucht die Rolle des offenen Briefs für ein postalische und testamentarische Schreibstrategien verbindendes autobiografisches Raum-Zeit-Narrativ.
Die Anmeldung zur Tagung ist erwünscht unter (0451) 122-4275. Kurzentschlossene können ihre Karten auch an der Tagungskasse vor Ort erwerben.
(Presseinformation der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft) . +++