Rau: Neues Buddenbrookhaus macht Lust auf Lektüre

Veröffentlicht am 06.06.2000

Rau: Neues Buddenbrookhaus macht Lust auf Lektüre

Rau: Neues Buddenbrookhaus macht Lust auf Lektüre

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Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau zum 125. Geburtstag von Thomas Mann und zur Wiedereröffnung des Buddenbrook-Hauses am 6. Juni 2000 in Lübeck

I.

Meine Damen und Herren,

Was für ein schöner Tag für Lübeck, was für ein großer Tag für Deutschland und für die deutsche Sprache. Adam Michnik, einer der führenden Köpfe der polnischen Bürgerrechtsbewegung, der heute der einflussreichste Publizist seines Landes ist, hat vor wenigen Tagen – im Zusammenhang von Überlegungen zu Einheit und Vielfalt in Europa – gesagt: "In einer globalen Zivilisation muss man die nationalen Traditionen pflegen, um nicht dieser Gleichschaltung - er benutzte dieses deutsche Wort im polnischen Text - durch Fernsehen und Werbung zu erliegen." Ich habe über diesen Satz viel nachgedacht.

Deutschland tut sich mit den nationalen Traditionen bekanntlich schwer. Es hat gute Gründe, dass wir uns schwer tun mit nationalen Traditionen. Um so besser ist es, wenn wir uns von Zeit zu Zeit des kulturellen – und durchaus auch politischen – Erbes erinnern, das uns Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann geschenkt haben. Wenn hier in Lübeck das einzige literarische EXPO-Projekt den Autoren der Mann-Familie beider Generationen, besonders aber Thomas Mann und seinem Roman "Buddenbrooks" gewidmet ist, dann ehren wir nicht nur Thomas Mann und sein Werk, sondern wir erinnern uns vielmehr an das, was sein Werk uns gibt oder geben könnte.

II.

Wenn ein Schriftsteller zum kulturellen Erbe gezählt wird, dann ist das für ihn nicht ganz ungefährlich. Klassiker geraten oft in den Verdacht, mehr aus Pflicht als aus Neigung gelesen zu werden. Wer hat das nicht noch im Ohr: "Wer wird nicht einen Klopstock loben, doch wird ihn jeder lesen? Nein. Wir möchten weniger erhoben und etwas mehr gelesen sein."

Nun: Es gibt keine Pflicht, Thomas Mann zu lesen. Es gibt aber die Pflicht der Kenner und Liebhaber, darauf hinzuweisen, welches Vergnügen und welcher Erfahrungsgewinn einem möglicherweise entgehen, wenn man Thomas Mann nicht liest.

Ich sehe den Sinn des literarischen EXPO-Projektes, der Präsentation hier im Buddenbrook-Haus, das wir heute Morgen haben besichtigen dürfen, und in der Stadt Lübeck darin, Lust auf Lektüre zu machen. Das ganze Drumherum sollte Hinweis und Appetitanreger sein und kein Ersatz fürs Lesen.

Alles Bemühen um das kulturelle Erbe, auch um das Werk der literarischen Familie Mann, liefe ja ins Leere, wenn nicht deutlich ist, dass uns von den Erfahrungsräumen und den Lebensbedingungen dieser Autoren Welten trennen. Diese Differenz anzuerkennen, schadet nach meiner Überzeugung nicht. Besser als die fadenscheinige Behauptung der Gegenwärtigkeit des Erbes ist die Anerkennung des Abstandes. Nur dann kann man, im Sinne Ernst Blochs, die Zukunft in der Vergangenheit suchen und erkennen.

III.

Es ist ja schon ungewöhnlich: Thomas Mann war 22 Jahre alt, als er die Buddenbrooks begann und er war 25, als die erste Auflage erschien. Das war schon damals selten, und heute scheint das fast undenkbar geworden zu sein. Was war es denn wohl, was Thomas Mann dazu befähigte, in so jungen Jahren diesen Roman zu schreiben?

Da war zum einen und in erster Linie seine große, seine unvergleichliche schriftstellerische Begabung. Er war ein sehr genauer Beobachter mit einem ungewöhnlichen sprachlichen Feingefühl. Wir müssen aber auch seine Lebenswelt berücksichtigen. Thomas Mann kam aus gutbürgerlichem Hause: der Sohn des Senators auf Lebenszeit. Das bedeutete damals unter anderem, dass man in jungen Jahren ganz selbstverständlich eine literarische Bildung erlebte. Diejenigen Werke der Weltliteratur, die damals in Westeuropa als Klassiker galten, waren schon jungen Menschen vertraut.

Die stilistischen Bauformen, das Handwerk, waren selbstverständlicher Teil der Bildung – ich meine hier nicht nur die Bildung durch die Schule. Es war die Zeit, in der die Sprache-– gesprochene, geschriebene und gelesene Sprache - das zentrale Medium der gesellschaftlichen Verständigung und der Unterhaltung waren. Man kann die deutsche und europäische Gesellschaft der damaligen Zeit mit Fug und Recht eine Lese-Gesellschaft nennen. Eine für uns unvorstellbare Zeit: ohne Film und Radio, ohne Fernsehen, ohne Telefon und Internet.

Der Roman war ein großer Erfolg, längst bevor er zum ersten Mal verfilmt wurde. Die Zeit der "Buddenbrooks" war noch nicht von den schnellen Schnittfolgen aus Film und Fernsehen geprägt, es war eine Zeit langer Geschichten, es war eine Zeit mit der Geduld für lange Geschichten. Noch einmal: Es war deswegen nicht eine bessere Zeit, es war nicht die gute alte Zeit, aber wenn wir heute Thomas Mann ehren, wenn wir uns heute seinen Werken stellen, dann dürfen wir nicht übersehen, wie anders die Zeiten geworden sind.

IV.

Interessant ist, dass der Erfolg der Buddenbrooks von Anfang an international war, obwohl es sich um eine Geschichte aus einer sehr besonderen deutschen Stadt mit einer sehr besonderen Familie handelte. Ich finde es wichtig, daran zu erinnern, dass es damals im deutschen und im europäischen Bürgertum nicht nur einen wachsenden Nationalismus gab. Den gab es auch, und er mündete dann ja bald in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Den hat Thomas Mann übrigens, wie viele andere junge europäische Intellektuelle der damaligen Zeit, zunächst ungeduldig begrüßt. Diese Erfahrung hat er im Zauberberg verarbeitet.

Es gab aber damals auch ein Bürgertum, das nicht nationalistisch war, sondern patriotisch und kosmopolitisch dachte; ein Bürgertum, für das die bürgerliche Kultur anderer Länder ein selbstverständlicher Teil seiner Bildung und auch seiner Selbstvergewisserung war. Das galt im übrigen auch für bedeutende Teile der deutschen und der europäischen Arbeiterbewegung der damaligen Zeit. Ich finde es wichtig, sich gerade heute an diesen Kosmopolitismus zu erinnern, wenn es um das Zusammenwachsen Europas gehen soll. Dann wird es auch leichter werden, diejenigen Länder und diejenigen gesellschaftlichen Schichten mit in das neu entstehende Europa einzubeziehen, die damals nicht dazu gerechnet wurden, weil sie entweder nicht als westlich oder nicht als bürgerlich galten.

V.

Wer über Thomas Mann und die deutsche Kultur spricht, der muss an den barbarischen Kulturbruch des Nationalsozialismus erinnern, von dem auch Thomas Manns Biographie geprägt worden ist.

Deutschland hat ihn, den Nobelpreisträger von 1929, einen seiner bedeutendsten kreativen Köpfe, mit vielen anderen aus dem Land gejagt. Deutschland hat ihm 1936 die Staatsbürgerschaft entzogen. Das Nachtreten der Universität Bonn, die ihm wie dem Theologen Karl Barth die Ehrendoktorwürde entzog, hat er dabei am wenigsten verwunden.

Schon längst hatte sich Thomas Mann – nach der Aussöhnung mit seinem Bruder Heinrich – nicht mehr als unpolitischer Ästhet verstanden, sondern er war zu einem deutlichen Befürworter der Republik und zu einem Warner vor der drohenden Barbarei geworden.

Dafür musste er ins Exil. Dort spielte Thomas Mann in der internationalen Öffentlichkeit eine Rolle, die nie zuvor einem deutschen Schriftsteller zugefallen war: Er wurde zur weithin sichtbaren, zur repräsentativen Gegenfigur der deutschen Barbarei. Er war sich dessen sehr bewusst. Er hat diese Rolle angenommen, und er hat sie ausgefüllt. Vielleicht ist es diesem Vorbild zu verdanken, dass auch danach in Deutschland Schriftsteller immer wieder - und bis heute - zu moralischen Instanzen geworden sind.

VI.

Ein wichtiger Teil der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ist außerhalb Deutschlands geschrieben worden. Er gehört zur sogenannten Exilliteratur – auch ein bedeutender Teil der Werke Thomas und Heinrich Manns. Es war nicht zuletzt diese Erfahrung von Emigration und Exil, die dazu geführt hat, dass Deutschland nach dem Krieg das Asylrecht eingeführt hat. So konnte Deutschland Heimstätte und Zuflucht auch für viele verfolgte Schriftsteller und Intellektuelle aus aller Welt werden. Diese politische Haltung gereicht uns zur Ehre und das sogenannte kulturelle Erbe, das wir heute feiern, sollte uns bleibend verpflichten.

VII.

Wir haben jetzt viel über Thomas Mann gehört und sind dabei in der Gefahr, die Herrschaft des Sekundären wieder ein wenig mehr zu befestigen, wie George Steiner das einmal genannt hat. Um so mehr freue ich mich darüber, dass Thomas Mann jetzt selber zu Wort kommt und dass Veronica Ferres ihm ihre Stimme leiht.

Es gilt das gesprochene Wort!!!

Diese Rede wurde dem Bereich Presse- und Öffentlichkeit der Hansestadt Lübeck freundlicherweise vom Bundespräsidialamt Berlin zur Verfügung gestellt.

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