Begrüßungsrede von Michael Bouteiller anläßlich der Willy-Brandt-Ausstellung im Burgkloster zu Lübeck, 9. Januar 1998
"Sehr verehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Lübeckerinnen und Lübecker
ich bin mir bewußt, daß ich für diese Anrede nicht annähernd so viel Beifall bekommen werde, wie Willy Brandt bei einer seiner vielen Reden auf dem Lübecker Markt. Trotzdem bitte ich Sie. sich mit dieser Anrede alle herzlichst begrüßt zu fühlen und sich im Sinne unseres Ehrenbürgers heute abend, woher Sie auch immer kommen mögen, als Lübeckerinnen und Lübecker zu verstehen.
"Ohne Geburtsstädte kein Weltbürgertum", sagte Heinrich Mann. Und so empfand es wohl auch Willy Brandt, einer der bedeutendsten Weltbürger unseres Jahrhunderts, als er anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch die Hansestadt Lübeck sagte: "Ich komme aus Lübeck, dieser Stadt mit alten republikanischen und weltbürgerlichen Traditionen. Wenn ich sage, ich hätte dieser Stadt viel zu verdanken, so meine ich vor allem die Vorformung, die ich hier erfahren habe, bevor ich durch die Einschnitte der Jahre 1933 und 1945 geprägt worden bin. Ich trug immer ein Stück Lübeck in mir mit, wohin ich auch verschlagen wurde. Und ich fand auch dort, wohin ich kam, häufig ein Stück von Lübeck vor."
Willy Brandt, den wir heute mit dieser Ausstellung der Friedrich Ebert Stiftung in seiner Heimatstadt ehren, ist also auch ganz bewußt immer ein Lübecker geblieben. Die Geschichte Lübecks und Willy Brandts ist eine schöne und eine traurige Geschichte zugleich. Traurig, weil er aus seiner "Mutterstadt", wie er Liibeck nannte, fliehen mußte und für zwölf Jahre nicht zurückkehren konnte. Schön, weil wir wissen, daß er hier die Grundlage erhielt für ein Leben und ein Lebenswerk, das unserem Land auf so wunderbare Weise gedient hat.
Hier traf er früh auf Menschen, die ihn prägten. Allen voran, Julius Leber, der in diesem Gebäude von den Nazis inhaftiert war und der 1945 - wie Brandt es ausdrückte - "als Ehrenretter der Nation sein Leben lassen mußte". Aber da war auch sein Lehrer Professor Eilhard Erich Pauls, sein Geschichts- und Deutschlehrer. Bei dem machte er Abitur mit einer Arbeit über August Bebel. In seinem Schulaufsatz betont der damalige Herbert Frahm Bebels Grundsatztreue, doch schreibt er dann: "Aber er verunglimpfte niemand persönlich. Ihm ging es um die Sache."
Dieser Satz des Primaners über Bebel bewegt deswegen, weil er auch ein Selbstzeugnis des späten Willy Brandt hätte sein können. Natürlich konnte Brandt auch manchmal austeilen. Doch persönliche Verunglimpfungen, die auf die Integrität der Person zielten, waren ihm zuwider. Um so mehr trafen ihn persönliche Attacken und Herabsetzungen parteipolitischer Gegner und zuweilen auch von sogenannten Parteifreunden und -freundinnen. Da reagierte er auf sympathische Art fast hilflos oder bitter grollend und schließlich auch mit Rückzügen aus der aktiven Politik.
Brandt war eine Persönlichkeit mit Brüchen und auch mit Schwächen. Aber unausgesprochen erwartete er Fairneß von politischen Gegnern, die persönlich und politisch weit mehr als er gefehlt hatten. Mit welch nobler Nachsicht beispielsweise, begegnete er, der einst vor den Nazis geflüchtete Emigrant all jenen, die 1933 bis 1945 in Deutschland ihre mehr oder minder notwendigen Kompromisse gemacht hatten.
Und er war einer, der geliebt wurde, der hohes Ansehen genoß bei den sogenannten einfachen Leuten, wie bei herausragenden Köpfen in vielen Ländern der Erde. Kaum einer hat ihn treffender geschildert als Günter Grass, den ich hier heute als Lübecker Bürger zusammen mit seiner Frau besonders herzlich begrüße. Grass schrieb: "Sobald er Schritte macht, bewegt er Vergangenheit, seine, unsere: die nationalen Wackersteine. Ein Packpferd, das nur läuft, wenn ihm Übergewicht aufgetragen wird."
Weltoffen und wagemutig und vielleicht auch machtbewußr ein besseres Deutschland. Er bat um Abbitte und kniete für ein Land, dessen verbrecherische Herrscher er sein Leben lang bekämpft hatte.
Es gibt eine Fülle von Geschichten um und mit Willy Brandt und Lübeck. Viele persönliche Begegnungen, viele prägende Eindrücke für Menschen dieser Stadt, die mindestens einen der bewegenden Momente miterlebt haben, bei seinen regelmäßigen Besuchen in Lübeck. Mag es sein, daß sich Lübeckerinnen und Lübecker erinnern an 1972, wo ein ruhiger, aber innerlich aufgewühlter Willy Brandt tränenüberströmt die Marienkirche verließ, um zu zehntausenden Menschen auf dem Markt zu sprechen. Mag sein, daß die beiden Männer sich erinnern, die ihm bei einem seiner Spaziergänge durch die Stadt freundlich zuriefen: "Hallo Willy", und er antwortete: "Hallo Jungs" - und das übrigens in unmittelbarer Nähe zum Johanneum. Es gibt Geschichten zu Willy Brandt und Lübeck, bekannte und auch sehr persönliche und damit intime. Diese Geschichten müßten noch einmal beschrieben werden.
Ein großer Deutscher, ein Patriot im besten Sinne, ein Friedensnobelpreisträger, ein Ehrenbürger und Weltbürger wird mit dieser Ausstellung heute geehrt. Ich bedanke mich im Namen der Stadt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und allen, die dazu beigetragen haben. Geehrt wird aber auch der Bundeskanzler, der in seiner ersten Antrittsrede am Schluß sagte: "Wir wollen ein Volk von guten Nachbarn sein im Innern wie nach außen", und der dabei nach eigenen Aussagen an die Inschrift im Lübecker Holstentor dachte: Concordia domi, foris Pax.
Geehrt wird mit der Ausstellung vor allem ein Mensch, der dem Norden mit aller Liebe und Mentalität verbunden und zugeneigt war. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat man ihm viele Fragen gestellt. Alle wußten, er war der Erfinder, der Architekt, der unerschütterlich Glaubende, aber vor allem der Handelnde. Auf die Frage eines Journalisten, ob er sich denn eher als Westdeutscher oder Ostdeutscher fühle, antwortete er spontan: "Ich bin Norddeutscher."
Dem sind nur zwei Anmerkungen hinzuzufügen: Das Preisgeld für den Friedensnobelpreis 1971 hat er maßgeblich für den Wiederaufbau der Synagoge in Venedig gestiftet, was erst nach seinem Tod bekannt werden durfte. Und ohne zynisch werden zu wollen, können wir froh sein, daß er den ersten Brand einer Synagoge auf deutschem Boden, ausgerechnet in seiner Heimatstadt Lübeck nicht mehr erlebt hat. Und zweite Anmerkung : Sein Wunsch für seine Grabinschrift war: "Man hat sich bemüht."
Sie gestatten mir das eine persönliches Wort: "Willy, wir, die Menschen Deiner Stadt, werden uns in Deinem Sinne auch bemühen."
Wir ehren einen Weltbürger, einen gerechtsam denkenden Patrioten, einen Menschen, der dieser Stadt zu Ehre gereicht - einen Lübecker.
Und - wir ehren einen außergewöhnlich liebenswerten Menschen.
Ich danke Ihnen allen, daß Sie zur Ehre dieses großen Lübeckers heute abend gekommen sind.." +++
Michael Bouteiller ist Bürgermeister der Hansestadt Lübeck.