Carl Julius Milde (1803–1875) ist in Lübeck kein Unbekannter. Sein passioniertes und lang-jähriges Engagement für die Kultur der Hansestadt wirkt bis heute nach. Milde war erster Konservator der Lübecker Kunst- und Naturaliensammlung und er setzte sich u. a. mit seinem „Lübecker ABC“ für den Erhalt von Baudenkmälern ein. Im Zuge seiner künstlerischen Ausbildung reiste Milde nach Italien. Die dort gezeichneten und aquarellierten Landschaften und Porträts zählen ebenso zu seinem bekannten OEuvre.
Weitgehend unbekannt ist hingegen, dass Milde auch für die Medizin als Künstler tätig war. Seine Patientenporträts entstanden im Kontext der Verwissenschaftlichung der Psychiatrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie werden in der Ausstellung in Lübeck erstmals in den Fokus gerückt.
Während die Psychiatrie als medizinisch eigenständige Disziplin etabliert wurde, begannen Ärzte, Serien von Patientenporträts durch professionelle, auf Bildnisse spezialisierte Künstler zeichnen zu lassen. Man benötigte Bildmaterial, um psychiatrische Erkrankungen zu unterscheiden und zu klassifizieren. Dabei spielten die Porträts keineswegs eine rein illustrierende Rolle. Sie waren integraler Bestandteil der ärztlichen Diagnose und der wissenschaftlichen Argumentation. Zugleich hielt Milde die individuellen Züge der von ihm Dargestellten fest. Man erkennt Spuren des gelebten Lebens, den verletzbaren, vielleicht auch leidenden Menschen. Zwischen der Individualität der Porträts und dem wissenschaftlichen Anspruch der Zeichnungen liegt der Spannungsbereich dieser Werke.
Forschungsgrundlage der Ausstellung
Die Präsentation von Mildes Patientenporträts erfolgt in dieser Ausstellung und dem begleitenden Katalog erstmals kommentiert und auf Grundlage wissenschaftlicher Forschung. Der Leiter des Museums Behnhaus Drägerhaus, Dr. Alexander Bastek, macht deutlich, warum die Ausstellung so relevant für die Stadt Lübeck ist: „Carl Julius Milde ist eine wichtige Figur in der Kulturgeschichte Lübecks. Ich freue mich, dass wir mit dieser Ausstellung eine unbekannte Facette dieser bedeutenden Künstler-persönlichkeit aufzeigen und zugleich das Gesamtbild Milde klarer umreißen können.“ An der Universität Göttingen hat Julia Diekmann, Stipendiatin am Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL), im Rahmen ihrer Dissertation „Der wissenschaftliche Blick Carl Julius Milde und seine Porträts ‚geisteskranker‘ Patienten“ die enge Verknüpfung von Kunst und Naturwissenschaft, von Kulturleistung und medizinischer Forschung untersucht.
Der Leitende Direktor der LÜBECKER MUSEEN Prof. Dr. Hans Wißkirchen lobt vor allem die Zusammenarbeit des ZFKL und der Lübecker Museen: „Ich freue mich darüber, dass die Arbeit des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) hier erstmals in eine Ausstellung der Lübecker Museen mündet. Die Kuratorin Frau Diekmann war drei Jahre lang Stipendiatin des ZKFL und konnte mit Ihrer Dissertation das Wissen über die Sammlung des Behnhauses erweitern und wir sind froh, dass wir dies nun der Öffentlichkeit präsentieren können.“
Julia Diekmann schrieb auch den Hauptartikel zur maßgeblichen Einordnung und Bewertung von Mildes Patientenporträts im Katalog. Der Einordnung dieses außergewöhnlichen Zeichnungskonvoluts in einen größeren Rahmen gehen auch die weiteren Aufsätze nach:
Mildes Porträts stehen als Kunstwerke im Kontext der Kunstfragen seiner Epoche. Michael Thimann beleuchtet daher in seinem Katalogbeitrag Mildes Zeichnungen im Rahmen der Porträtkunst der Romantik, zwischen Seelenmalerei und einer der Wahrheit verpflichteten nazarenischen Bildkonzeption.
Als Bildnisse, die im Kontext der medizinischen Praxis entstanden, müssen Mildes Patientenporträts auch im Zusammenhang der Psychiatriegeschichte des frühen 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Dies leistet Cornelius Borck in seinem Katalogbeitrag, in dem er den „Umgang mit Irrsinnigen“ im Hamburger Krankenhaus im europäischen Vergleich veranschaulicht.
Nicht zuletzt stehen die fünf Jahre, in denen Milde für das Hamburger Allgemeine Krankenhaus St. Georg als Zeichner tätig war, im Zusammenhang einer bewegten Künstlerbiografie. Der Beitrag von Henry A. Smith kennzeichnet diese Jahre, mit einem umfänglichen Blick auf Mildes Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, als seine Wendejahre.
Der Katalog zur Ausstellung (192 Seiten, 127 Abbildungen) ist im Michael Imhof Verlag erschienen und für 19,90 EUR im Museumsshop erhältlich. Die großzügige Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglichte dessen Erarbeitung und den Druck. Dazu bemerkt der Generalsekretär Dr. Martin Hoernes: „Die Initiative, ein bislang weitgehend unbekanntes und unerforschtes Konvolut der eigenen Sammlung in den Blick zu nehmen und dabei die Verbindungen von Kunst und Wissenschaft im 19. Jahrhundert zu untersuchen, unterstützen wir sehr gern durch die Finanzierung des Ausstellungskataloges.“+++