"Weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat", hat Günter Grass den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhalten. Dies geht hervor aus der Begründung, die heute der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie in Stockholm veröffentlichte. Wir dokumentieren nachstehend den Wortlaut.
"Als Günter Grass 1959 "Die Blechtrommel" herausgab, war es, als wäre der deutschen Literatur nach Jahrzehnten sprachlicher und moralischer Zerstörung ein neuer Anfang vergönnt worden. Auf den Seiten dieses seinen ersten Romans wurde eine verlorene Welt wiedererschaffen, die der Nährboden seines schriftstellerischen Werkes gewesen war, die Heimatstadt Danzig, wie sie Grass aus seinen frühen Jahren vor der Katastrophe des Krieges erinnerte. Hier nahm er sich der großen Aufgabe an, die Geschichte seiner Zeit dadurch zu revidieren, daß er das Verleugnete und Vergessene wieder heraufbeschwor: die Opfer, die Verlierer und die Lügen, die das Volk vergessen wollte, weil es einmal daran geglaubt hatte. Gleichzeitig sprengt das Buch dadurch den Rahmen des Realismus, daß es Hauptgestalt und Erzähler eine teuflische Intelligenz in dem Körper eines Dreijährigen sein läßt, ein Monstrum, das sich der Menschlichkeit mit Hilfe einer Spielzeugtrommel bezwingend nähert. Der unvergeßliche Oskar Matzerath ist ein Intellektueller mit der Kindlichkeit als kritischer Methode, ein Einmannkarneval, der Dadaismus, der im Alltag der deutschen Provinz in dem Augenblick durchgeführt wird, als die kleine Welt in den Wahnsinn der großen Welt hineingezogen wird. Man wagt die Vermutung, daß "Die Blechtrommel" zu den bleibenden literarischen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts gehören wird.
Günter Grass hat sich als "Spätaufklärer" bekannt in einer Zeit, die der Vernunft müde geworden ist. Er fabuliert und hält gelehrte Vorträge, er fängt Stimmen auf und monologisiert dreist, er ahmt nach und schafft gleichzeitig eine ironische Mundart, die nur er beherrscht. Durch seine Macht über die deutsche Syntax und seine Bereitschaft, ihre labyrinthischen Feinheiten zu nutzen, erinnert er an Thomas Mann. Sein schriftstellerisches Werk ist ein Dialog mit dem großen Erbe deutscher Bildung, der mit sehr strenger Liebe geführt wird.
Nach der "Blechtrommel" kehrte Grass in zwei untereinander sehr unterschiedlichen Werken zum Thema Danzig zurück. Die straffe Erzählung "Katz und Maus" zeigt, wie die magische Freundschaft der Knabenjahre untergeht, als die Kriegsspiele auf den wirklichen Krieg treffen. Die "Hundejahre" sind Grass' modernistischstes Werk, ein Text ohne bestimmbares Zentrum, ein Raum für Stimmen und ein Treffpunkt für Fieberträume, die, wie sich zeigt, mit dem Leben zusammenfallen.
In anderen Romanen wählte Grass eine eher diskursive Linie und plädierte für den Zweifel und den guten Willen. In der öffentlichen Debatte seines Heimatlands ist er Kraftquell und Fels des Ärgernisses, aber für literarische Größen draußen in der Welt wie García Márquez, Rushdie, Gordimer, Lobo Antunes und Kenzaburo Oe ein bewunderter Vorgänger.
Der Roman "Der Butt" bedeutete die Rückkehr des großen Stils in sein schriftstellerisches Werk in Form einer Weltgeschichte, die vollgestopft ist mit wahren Schnurren und hitzigen ideologischen Diskussionen. Grass stellt die Entwicklung der Zivilisation dar als einen Kampf zwischen verheerenden männlichen Träumen von Größe und weiblicher Kompetenz. Der Ausgang ist ungewiß. Der sprechende Butt, den Gebrüdern Grimm abgeworben, ist in seiner Eigenschaft als Ratgeber der Frauen ein Weltgeist, wie Hegel sich ihn nie hätte vorstellen können. Der Erzähler selbst bleibt dagegen eine notorisch unzuverlässige Mannsperson und rettet den Spielraum für Unartigkeiten, ohne den die Kunst stirbt.
Die beiden Hauptgestalten in "Ein weites Feld", der ewige Humanist und der ewige Spitzel, setzen vor dem Hintergrund des wilhelminischen Deutschland und der heutigen Bundesrepublik das Verhältnis der künstlerischen Phantasie zur Staatsmacht in Szene. Das Buch war ein Zankapfel der deutschen Literaturkritik, aber befestigte die Stellung des Schriftstellers als desjenigen, der die großen Fragen an die Geschichte unseres Jahrhunderts stellt.
Sein letztes Buch "Mein Jahrhundert" ist ein Kommentar, der das zwanzigste Jahrhundert fortlaufend begleitet und einen besonderen Scharfblick für den verdummenden Enthusiasmus zeigt. Der Spatenstich des Günter Grass in die Vergangenheit gräbt tiefer als der der meisten, und er findet, wie die Wurzeln des Guten und Bösen miteinander verschlungen liegen. Wie in den "Hundejahren" festgestellt wird: "Als Gott noch zur Schule ging, fiel ihm auf dem himmlischen Pausenhof ein, mit seinem Schulfreund, dem kleinen begabten Teufel, die Welt zu erschaffen."
Stockholm, 30. September 1999 "+++