Zur Anfrage von Frau Monika Schedel (Bündnis 90 / Die Grünen), stellv. AM: „Wie hoch ist der Bearbeitungsstand der 1987 / 1990 dem Lübecker Stadtarchiv zurückgegebenen Archivalien, gegliedert nach Sachgebieten wie z.B. kirchlichen Belange. Ein von Stiftungen gefördertes Forschungsprojekt könnte die Erschließung dieser für die Wissenschaft wichtigen Lübecker Quellen befördern. Eine schriftliche Beantwortung wird erbeten.“, wird wie folgt berichtet.
Unbearbeitete ältere Rückführungsbestände: Nachfragen von Öffentlichkeit und Forschung
Das Archiv der Hansestadt Lübeck ist eine Stätte hochrangiger nationaler und internationaler wissenschaftlicher Forschung. 36 % seiner Benutzer sind Wissenschaftler aus dem In- und Ausland. Die Lübecker Bestände sind von nordeuropäischer Bedeutung; einige Dokumente des Stadtarchivs sind als Vorschlag Deutschlands bei der UNESCO nominiert worden, um sie in das Weltdokumentenerbe einzutragen.
Die Benutzer aus dem In- und Ausland erwarten eine möglichst vollständige digitale Zugänglichkeit der Lübecker Bestände. Diese ist schon vielfach gegeben, für einige wichtige Teile fehlt sie allerdings noch völlig. Besonders komplexe Bestände sind derzeit überhaupt nicht benutzbar. Es gab und gibt aus diesem Grund Beschwerden der Forschung. 2018 beanstandete zum Beispiel Prof. Dr. Arnd Reitemeier, Direktor des Instituts für Historische Landesforschung Göttingen, den Bearbeitungsrückstand am Beispiel der „Ecclesiastica“ [Kirchenangelegenheiten des Lübecker Senats] wie folgt:
„… [es] muss abschließend konstatiert werden, dass das reiche Lübecker Stadtarchiv hervorragende Ausgangsmöglichkeiten zur Erforschung des 16. Jahrhunderts bietet. Ebendies aber verweist auf das mit Abstand größte Desiderat der Wissenschaft: Umfang und Relevanz der im Bestand „Ecclesiastica“ erfassten Urkunden, Akten und Amtsbücher können gegenwärtig lediglich bruchstückhaft abgeschätzt werden. Diese Archivalien wurden zwar bereits 1987 nach Lübeck zurückgebracht, harren jedoch seither – für die Forschung unzugänglich – der Erschließung. Die Stadt Lübeck wäre gut beraten, diesen sie von vielen anderen Städten unterscheidenden Schatz baldmöglichst der Wissenschaft zugänglich zu machen." (Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 2018, S. 164).
Auch zu anderen unbenutzbaren Beständen hat sich die Forschung früher in ähnlicher Weise kritisch gegenüber dem Archiv geäußert.
Gründe
Nach dem Luftangriff an Palmarum 1942 wurden die meisten der älteren Archivalien des Stadtarchivs zum Schutz in ein Salzbergwerk an der Saale ausgelagert. Nach Kriegsende transportierte die sowjetische Besatzungsmacht diese Unterlagen in die Sowjetunion bzw. in die spätere DDR.
Erst nach 1987 bzw. 1990 kehrten diese für die Forschung und die historische Identität der Hansestadt Lübeck wichtigen Archivalien nach Lübeck zurück. Etwa 5 % der ausgelagerten Archivalien fehlen bis heute. Insgesamt umfasste das Rückführungsgut 1.100 laufende Regalmeter bzw. rd. 40 Tonnen Archivmaterial.
Schon vor der Entfremdung befand sich ein Teil dieses Archivguts in keinem guten Ordnungszustand, bei einigen Beständen fehlte die Ordnung überhaupt. Während der jahrzehntelangen Odyssee der Bestände im Osten verbesserte sich dieser Zustand nicht, im Gegenteil. Erst nach Rückführung der Lübecker Akten in das AHL konnte mit der Ordnungs- und Erschließungsarbeit begonnen werden; die lange „Zwangspause“ davor hat im Vergleich zu anderen Staats- und Stadtarchiven zu einem deutlichen Erschließungsrückstand des Lübecker Archivs geführt, der bis heute nicht aufgeholt werden konnte
Die Rückstände ergeben sich auch aus der Vielzahl der übrigen wahrzunehmenden Aufgaben des Archivs mit gleich hoher Priorität (u.a. Bewertung von Altschriftgut der Verwaltung, Entlastung der Bereiche von Altschriftgut; Planung und Aufbau eines elektronischen Stadtarchivs; neue gesetzliche Aufgaben [Unterlagen der Meldestelle und des Standesamts]). Zudem kommen jährlich archivwürdige Akten aus der Verwaltung im Umfang von ca. 30-50 Regalmeter neu in das AHL, die verpackt und geordnet werden müssen.
Bisherige Maßnahmen zur Aufholung des Rückstands
Die digitale Erschließung (Identifizierung, Ordnung und Anfertigen von Inhaltsangaben in einer Archivsoftware) des umfangreichen Materials bildet seit 1990 einen Arbeitsschwerpunkt im AHL; diese Aufgabe ist sehr zeit- und personalaufwändig. In der Regel kann die Erschließungsarbeit nur von archivarisch ausgebildetem externen Personal durchgeführt werden; das gilt insbesondere für die jetzt noch unbearbeiteten Bestände.
Seit 1990 wurden in zahlreichen, größtenteils drittmittelfinanzierten Projekten viele Bestände geordnet und digital erschlossen. Über 330.000 einzelne Archivalieneinheiten, zeitlich vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert reichend, können heute online auf der Homepage des AHL auf Inhaltsangabenebene recherchiert werden, etliche Archivalien wurden zudem verbildlicht und sind vollständig online einsehbar (https://www.stadtarchiv-luebeck.findbuch.net). Das AHL ist mit diesem Angebot führend unter den schleswig-holsteinischen Archiven.
Umfang der Bearbeitungsrückstände
Gleichwohl ist der Bearbeitungsrückstand bei den Auslagerungsbeständen erheblich. Detaillierte Auskunft darüber gibt die Anlage 1. Insgesamt beläuft sich der Arbeitsrückstand für die 375 Regalmeter an vorrangig nachgefragten Archivalien - gemessen in Arbeitsjahren - auf rd. 18 Jahre, d.h. ein/e Bearbeiter/in mit regulärer Arbeitszeit würde diese Zeit für die Erschließung aller Rückstände benötigen. Nicht einberechnet sind hier die ca. 5.000 Karten und Pläne in der Plankammer des Archivs, die dringend geordnet, neu gelagert und erfasst werden müssen.
Perspektiven
Das Archiv beabsichtigt (voraussichtlich in 2020), bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft weitere Projektanträge zu stellen. Die wichtigsten der noch unverzeichneten Bestände, auf die die Forschung seit längerem wartet, sollen dann durch externe wissenschaftliche Kräfte bearbeitet werden. Da es sich um Arbeiten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad handelt, kommen dafür nur ausgebildete Archivare/innen, unter Umständen archivarisch versierte und geschulte Historiker/innen in Frage.[1]
Das Archiv ist aufgrund seiner großen Aufgabenfülle nur sehr eingeschränkt in der Lage, solche Drittmittelprojekte zu initiieren und durchzuführen, auch wenn der Gewinn solcher Maßnahmen außer Frage steht. Das aufwändige Beantragungsprocedere, die Personalgewinnung und vor allem die zeitintensive Betreuung/Beaufsichtigung der Projektkraft stellen eine große zusätzliche Belastung für das mit weiteren Pflichtaufgaben bereits vollständig ausgelastete archivarische Stammpersonal dar. Zudem fordert die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Einbringung von Eigenmitteln.[2] Grundsätzlich ist festzustellen, dass das Archiv nicht alle Projekte (Digitalisierung, Aktenbewertungen, Übernahmen, Auskunftstätigkeit, Aufbau elektronisches Stadtarchiv, Lesesaalbetrieb) gleichzeitig stemmen kann.
Gleichwohl sind solche Projektanträge unverzichtbar. Für die älteren Gerichtsbestände der Hansestadt Lübeck und die Kirchenakten des Alten Rates sind Anträge in der Erarbeitung, eine Umsetzung für 2020 scheint denkbar, vorausgesetzt die DFG entscheidet die Förderwürdigkeit der Lübecker Anträge positiv. Zusätzlich oder alternativ wäre darüber zu entscheiden, ob das AHL projektbezogene Personalmittel zur Verringerung der Altlasten zugewiesen bekommen kann.
Aktuell ist ein Projekt in Vorbereitung, um die weitere Digitalisierung von Kulturschätzen und -gütern in der Hansestadt Lübeck voranzutreiben. Ein erster Auftaktworkshop wird gemeinsam mit Lübecker Stiftungen und Kulturinstitutionen im September 2019 stattfinden.
Hier erfolgt eine enge Abstimmung mit dem Land Schleswig-Holstein. U.a. die Lübecker Museen, das Archiv und die Stadtbibliothek sind seitens der Hansestadt Lübeck eingebunden.